Der Techno schlägt regelmäßige, gleichgerichtete Schneisen in die träge Mittagshitze. Unter einem roten Baldachin lümmeln sich wie jeden Mittag stoische Urlauber in die gepolsterten Gartenstühle der Bar, Blicke konsumieren fremde Gesichter, Körper, wie billige Werbefilme, welche einer neugierig und gelangweilt inmitten eines Kinofilmes an sich vorbeigleiten lässt. Auf der Küstenstraße schieben gemütlich blendende, schwere, weiß gestrichene Tieflader ihre weiß gestrichenen Panzerfahrzeuge durch die vom Meer zurückbrandenden, braun gebrannten Körper; triefende Badehosen und Badeanzüge, das nahe kühle Bier vor Augen, nehmen nicht einmal Notiz und spähen über die Straße hinweg nach eventuell noch freien Stühlen unter der riesigen, schwarzen Lautsprecherbox. Eine weiß gestrichene tonlose Armeeeinheit durchschneidet im Konvoi lautlos den pulsierenden Techno, verlässt die Stadt in Richtung Süden. Sie lassen keine UNO-Einheiten mehr in das Landesinnere, teilt der Artikel vor Ónytjungur auf der dritten Seite mit. Sie werden heute ihren Abend wieder in ihren Tiefladern verbringen und warten.
Ónytjungur hat das Gefühl, als hätte eine Axt seinen Kopf in zwei Hälften gespalten, starrte auf die Menschen, sein Bier, die Menschen, seine Hand, das Bier, die Gesichter, die Körper, und fühlte, wie Gedanken verzweifelt sich bemühen, die klaffenden Hälften wieder zusammenzunähen, zu verbinden.
Dort oben liegt das Tal mit seiner Leichenstille, mit den schwarz geräucherten Mauerresten, den verkohlten, verstümmelten Balken, die Bewohner sind noch zu riechen, der Schweiß ihrer Arbeit, die Würze ihrer Mittagstische, aber sie waren nicht mehr da. Haus an Haus eine stumme Ruinenlandschaft, als hätte todbringende glühende Lava das Tal durchjagt und alles mitgerissen, verbrannt, eingedrückt, was sich ihr in den Weg stellte. Aber da waren noch die grüngelben Wiesen, die dichten Sträucher, die wildwuchernde Verwahrlosung in den Vorgärten der stummen Ruinen; ausgebrannte Ruinen, so frisch, als wäre erst eine Nacht verstrichen, die alles veränderte. Leichenstille. Brandgeruch. Bauernhäuser ohne Dächer, Haus um Haus, und an der nächsten Biegung die nächste Ruine. Ein Tal, das den Tod brachte. Und immer wieder dieses Erschrecken, wenn sich durch die Bäume eine Hausecke zeigt, intakt, näher ran, doch wieder ausgebrannt, ohne Dach, manche Hauswand von Gewehrsalven graviert, andere wieder ohne Kampfspuren, einfach niedergebrannt, Haus um Haus, und wieder Haus um Haus, dazwischen ein Bauer, welcher vor seinem gardinenbehängten Fenster, vor seinem unbeschädigten Bauernhof liebevoll Gemüse aus dem Vorgarten zieht. Ein Kroate.
Wo ist Dein Nachbar, Kroate, möchte Ónytjungur hinüberrufen, und hingehen, doch er geht nicht, er fragt nicht. Denn dieses Haus ist unbeschädigt, geradezu friedlich inmitten der zahlreichen Ruinen, und es stand bereits zu dem Zeitpunkt, als Bauernhäuser niedergebrannt wurden, die Familien zusammengeschossen und ‚HOS‘ an die verbliebenen Mauerreste gesprüht, so wie man Todesurteile unterschreibt, und stolz noch seinen Titel neben die Unterschrift setzt. Er war Zeitzeuge, so nennen ihn die Historiker. Dieser Bauer, der in seinem Vorgarten Gemüse zieht. Es war sein Nachbar. Und entweder hat er sich in sein Haus verkrochen, es geht uns nichts an, wird er wohl gesagt haben, aber viel wahrscheinlicher ist, dass er auch vor dem Haus des Nachbarn stand, als es brannte, dass seine Hand vielleicht auch eine Fackel trug. Die gleiche Hand, die nun sorgsam das Kraut von der Erde des Vorgartens befreit. Denn das Gemüse ist kroatisch. Der Nachbar aber war Tschetnik. Man sagt nicht Serbe, man sagt Tschetnik, wenn man von Serben spricht, man nimmt den Namen aus der Vergangenheit, den Namen, den sich eine serbische Schlachtergruppe gab, um Menschen schlachten zu können. Nun ist der Nachbar Tschetnik und nicht Serbe. Das macht vieles leichter.
Der Tankwart grinst breit, als Ónytjungur sich auf dem Weg nach Plitvice erkundigt. Die Straßenschilder, die in der Vergangenheit den Weg nach Plitvice zeigten, waren verschwunden, so als gäbe es Plitvice nicht mehr. Der Tankwart in Josipdol grinste erfahren, streckte die Hand aus, als würde sie eine Pistole halten, und krümmte hintereinander mehrfach den Zeigefinger. „Tschetniki“, sagte er grinsend, so als wären sie nur noch heute dort.
Kabelstränge ziehen die Straße nach Josipdol entlang, Nachrichtenverbindungen für die Kroatische Armee, die in Cafes und Bars herumlungert, entspannt lachend, es sind die Augen von Siegern; entspannt, lachend in ihren Gefechtsständen entlang der Straße, die sie hinter Bauerhöfen und Bars versteckt halten. Ausländer sollen sich nicht außerhalb von Ortschaften aufhalten, nicht anhalten, nur in geschlossenen Ortschaften aussteigen, gebietet ein riesiges Schild am Straßenrand. Doch es gibt keine Ausländer mehr. Sie drücken sich vorbei in das touristische Vakuum, den Uferstraßen entlang, zu den nun freigewordenen Bootsstegen, Bootsliegeplätzen.
Er wird wohl dabei gewesen sein, dachte Ónytjungur und betrachtete den Bauern, wie er bedächtig Staude zu Staude neben das Gemüsebeet schichtet. Er wird wohl dabei gewesen sein, und sich nicht hinter seinen Gardinen versteckt haben, denn sie sind alle eine verschworene Gemeinschaft, sie winken sich zu, sie rufen sich zu. Sie lächeln und diskutieren auf den Straßen der nahen Stadt Otocac, eine Siegergemeinde, man ist sie los, diese Tschetniki, und wo sie einmal waren, ziert eine schwarz geräucherte Ruine die adrette Einfamilienhaus-Siedlung, ein Stück Schutt inmitten blühender Vorgärten. Sie kennen sich, sie reden miteinander. Nicht so steril und vereinzelt wie im deutschen Europa stolzieren sie eiligst und geschäftig zu ihren Errungenschaften, hier gehen die Uhren ungleich langsamer, und man spricht über Straßen hinweg von Balkon zu Balkon, man kennt sich, sogar mit Namen, die Gesichter haben noch Namen, um wie viel mehr erst draußen auf den Bauernhöfen, im Tal. Und über das zahlreiche Kennen hinaus spürt man, sieht man, das darüber hinausgehende, verbindende, das alle verbindet: da ist ein Kroate, ein Katholik, er gehört zur Familie. Nun mehr denn je, denn man wurde gemeinsam serbenrein, keine orthodoxen Christen mehr als Nachbar vorhanden. Die kroatischen Fahnen befestigen Haus neben Haus, überall Militär, Uniformen, Straßenkontrollen. Zwischen Militärfahrzeugen und grünen Tarnhemden Privatfahrzeuge ohne Nummernschilder, zwei, drei Männer in schwarzen, kurzärmeligen Unterhemden auf Feindfahrt, Fahrzeuge ohne Namen, Männer ohne Namen. Aber man ist zum ersten Mal unter sich, Soldat, Zivilist und Schwarzunterhemd. Man ist unter sich, ein Umstand, der nie in der Vergangenheit der letzten Jahrzehnte Gewicht besaß, denn man machte Geschäfte miteinander. Ob Serbe, ob Kroate, ob Katholik oder orthodoxer Christ, war gleichgültig, man traf sich bei Kaffee zu einem Schwätzchen. Nun sind die serbischen Geschäfte leer, vernagelt, es gibt keine Serben mehr, nicht hier, hier nicht mehr. Nun gibt es Autos ohne Nummernschilder und Schwarzunterhemden.
Ónytjungur beobachtet das Profil der kroatischen Soldatin inmitten der Urlauber. Das Gesicht im Schatten hinter einer schwarzen, stumpfen Sonnenbrille, scharf geschnitten, das grobschlächtige Tarnhemd, die Kampfhose, der breite Gürtel an der schlanken Taille, die Dose Bier, dieses zarte silberne Kruzifix, am Ohrläppchen aufgehängt, wie eine Leiche, die an einem Baum baumelt. Die Urlauber schicken Blicke durch die versammelte Freizeitstimmung, sie nicht, starrt gegen einen Betonpfeiler. Ein Denkmal ohne Bewegung, bis der Chef pfeift, seine Truppe sammelt. Eine halbe Stunde, und sie hatte niemanden gesehen aus dieser illustren Runde, immer nur diesen Betonpfeiler unterhalb der Lautsprecherbox. Diese Soldatin ist ein Kämpfer, prüft Ónytjungur, sie besitzt die Fähigkeit nichts sehen zu brauchen, außer dieser Betonfläche, und ihr Gesicht ist entspannt. Sie brauchte nicht einmal ihre Kameraden, am anderen Ende, über ihre Bierdosen hinweg nach Bikinis spähend, feixend bis zum Pfiff. Aufstehen, sammeln, weitermachen, Figuren innerhalb einer Absicht. Am Ende eine weitere Nation, gesäubert, gereinigt. Ein gesäubertes Mitglied der Völkergemeinschaft, ein gesäuberter Partner für Geschäfte. Morgen werden mit den ausgebrannten Häusern die letzten verräterischen Spuren aufgekehrt. Es wird niemals gewesen sein, es ist ja jetzt schon nicht mehr. Die Zeitung meldet bereits ganzseitig von sauberen Küsten, so sauber wie schon lange nicht mehr, denn sie wurden für kurze Zeit nicht mehr benutzt. Neuigkeiten aus Kroatien von Belang. Ónytjungur treibt durch die zerschossene Stadt. Zuerst stirbt der Mensch, dann die Wahrheit, der Rest ist Geschichte.
Ein Wohnhaus, Stockwerk um Stockwerk, Balkon über Balkon, der letzte, im fünften Stock, dieser Balkon ist zerstört, schwarze Rauchschleier ziehen sich vom verkohlten Fensterrahmen die Mauer hinauf, zahlreiche Einschüsse markieren die Wohnung hinter dem Balkon im fünften Stock, Krieg auf zehn Quadratmeter Hauswand, der Rest ist unberührt. Da wurden Menschen herausgeschossen, herausgeräuchert, in Brand geschossen, die darunter liegenden Wohnungen durften Wohnungen bleiben, die oben war Feindesland, nunmehr wieder bewohnt, Wäsche hängt über der zerschossenen Balkonumfriedung, nunmehr kroatische Wäsche. Hat der Vormieter sich verbarrikadiert, vielleicht sogar zurückgeschossen, so dass man genau diese Wohnzelle, diese eine unter zwanzig, die unter dem Dach, isolierte, aussparte und unter konzentriertes Feuer nahm? Was mag wohl in den Sinnen dieses Mannes, oder war es eine Frau, eine Familie, was mag wohl in deren Sinnen vorgegangen sein, dass sie ihr Wohnzimmer zur Festung erklärten, wie weit konnten sie sehen, bis zum nächsten Schuss, zur nächsten Minute, eine kleine Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses, umgeben von Feinden, die gestern noch Nachbarn waren und nun Waffen trugen. Warum kam er oder die Familie nicht herunter? Was hat ihn oder diese bewogen, ihre kleine, gemütliche Wohnung mit den Bildern der Verwandten auf den Kommoden zu einer Kriegsstellung, zu einem Gefechtsstand zu erklären, darüber, darunter, nebenan, innen und außen lauter Feinde, Gewehrsalven zerplatzen an der Wohnzimmerwand, das Zimmer wird in Brand geschossen. Warlords aller Länder erklären Städte zu Festungen, stets, irgendwo, zu jeder Zeit, aber ein Wohnzimmer im fünften Stock? Oder wollte man gar nicht, dass er herunterkommt, hätte ihm unten, vor dem Haus das gleiche geblüht wie in seinem Wohnzimmer, das unter Beschuss liegt?
Nebenan klopfen sich Männer zur Begrüßung auf die Schulter, bestellen Kaffee, ein Bier, sitzen, erzählen, die Zeit geht träge und beschaulich, friedfertig und familiär zieht sich der Tagesablauf gegen den kühlen Abend hin, ein Mann schiebt eine mannshohe kroatische Fahne durch das offene Schiebedach seines Kleinwagens und fährt irgendwohin, wo diese Fahne nunmehr gebraucht wird. Alte Greise sitzen auf Parkbänken vor der zertrümmerten Häuserfront am Marktplatz. Diese Stadt ist serbenrein, und Panzersperren vor den Toren der Stadt markieren das Ende der Straße nach Plitvice. Hinter der Panzersperre liegen inmitten von intakten Bauernhäusern die nächsten Ruinen, die Fortsetzung des Tals ist kroatenrein. Das Tal zeigt sich in seiner Gesamtheit identisch, es ist ein Bild, eine Realität, gleicher können Teile, die durch Panzersperren getrennt sind, nicht sein. Nur der Kopf, die Geburtsstätte von Vorstellungen weiß, dass diesseits Kroaten und keine Serben, jenseits orthodoxe Christen und keine Katholiken, nunmehr serbenrein, kroatenrein, in die andere Hälfte des Tales schielen. Ein Mann mit blauem Barett steht neben seinem weißen Jeep, wie ein Grenzpfahl, markiert die Waffenstillstandslinie, ein Nagel im Fleisch der Köpfe. Vor ihm, in der Stadt, zieht sich die kroatische Armee zusammen, Fahrzeug um Fahrzeug passiert den Posten vor dem Hauptquartier, an einer Kontrollstelle kontrolliert Militärpolizei Marschbefehle, die kroatische Armee füllt ihre Bereitstellungsräume vor Plitvice.
Der Mann lacht aus dem offenen Verdeck seines Münchner-BMW’s. Es ist doch nur Waffenstillstand, lacht er, jeden Moment kann es wieder losgehen, mein Haus steht gleich vor der Panzersperre, ich bin mal wieder Zuhause. Er hat ein schönes Häuschen, der Vorgarten ist gepflegt, daneben eine verräucherte Ruine, ein ehemaliges Häuschen, ein ehemaliger Nachbar, eine einsame Ruine inmitten blühender, gepflegter Vorgärten. Wo ist dein Nachbar, Kroate, möchte Ónytjungur ihn anschreien. Aber der Mann lacht aus seinem offenen Verdeck, und der BMW ist so akribisch deutsch poliert.
Ónytjungur brüllt laut durch den Technosound in das fragende Gesicht der gut durchgestylten Kellnerin: „Haben Sie Cevapcici?“ Das junge Mädchen schüttelt gelangweilt den Kopf. Dann lächelt sie wie eine Mutter, welcher das naive Kind wieder eine dieser zahlreichen unsinnigen Fragen gestellt hat, und berät erheitert: „Ist serbisch!“
Unter einem roten Baldachin lümmeln sich wie jeden Mittag stoische Urlauber in die gepolsterten Gartenstühle der Bar, Blicke konsumieren fremde Gesichter und Körper wie billige Werbefilme, welche man neugierig und gelangweilt inmitten eines Kinofilmes an sich vorbeigleiten lässt. Der Techno paukt die Gehirne in jene Gleichgültigkeit, aus welcher Nationen erst erblühen. Bis die erste Kugel neben dir einschlägt. Doch dann ist es zu spät. Die CD aber wird überleben, irgendwo, in einem Archiv, für spätere Generationen, als digitaler Zeitzeuge einer Epoche. Denn Wahrheit verändert sich bereits nach dem ersten Bier.
22. August 1994, Björn Eriksson
(eine Erinnerung, anlässlich des 20. Jahrestags der „Operation Sturm“)
History will take care of the rest
Le reste appartient à l’Histoire