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Requiem der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft

Ónytjungur kam nach einer langen beschwerlichen Reise zurück zu seinem alten Freund Aldavinur.

Aldavinur: „Willkommen, alter Freund. Was weißt du neues zu berichten aus der Welt der Wesen?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gab es in der Vergangenheit das Gegensatzpaar Betriebsblindheit und Querdenker.“

Aldavinur: „Ist mir geläufig.“

Ónytjungur: „In der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft wurden diese eindeutigen Begriffe nun in eine Art Dreisatz umgewandelt.“

Aldavinur: „Dreisatz?“

Ónytjungur: „Ja, was vordem ein Breitmaulfrosch, wird nun  Querdenker genannt …“

Aldavinur: „… aber innerhalb von Anführungszeichen …“

Ónytjungur: „… mag sein, jedoch wer achtet heutzutage noch auf das Kleingedruckte, der gute Ruf ist damit endgültig ruiniert, und was einstmals Betriebsblindheit, ist nun aufgeklärter Mensch genannt.“

Aldavinur: „Will sagen, der ehemals Querdenker genannte Typ ist ausgestorben?“

Ónytjungur: „Nicht vollständig, es soll noch solche geben, welche zu systematischer und umfassender Untersuchung fähig. Dir dürfte ja der Unterschied zwischen Generalist und Spezialist geläufig sein.“

Aldavinur: „Nun, der Spezialist dringt in die Tiefe, weiß daher von immer weniger immer mehr, bis er von nichts alles weiß, hingegen der Überflieger von immer mehr immer weniger weiß, bis er von allem nichts weiß.“

Ónytjungur: „Allerdings ist sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft nunmehr darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten.“

Aldavinur: „Sie gedenkt ihrer selbst in einer Missa pro defunctis, einer Messe für die Verstorbenen? Aus welchem Grund, sie lebt doch noch?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gibt es einen Unterschied zwischen der scheinbaren Welt und der realen Welt.“

Aldavinur: „Wie meinen?“

Ónytjungur: „Nun, wenn ich zum Beispiel eine Zigarette schmauche, dann ist die Welt für mich persönlich in Ordnung, mein Körper hingegen sieht das nicht so.“

Aldavinur: „Was willst du mir damit sagen?“

Ónytjungur: „Dass bereits dieses Beispiel zeigt, dass es eine scheinbare Welt und eine reale Welt gibt. Die Frage ist nur, in welcher sich einer aufhalten möchte.“

Aldavinur: „Schön und gut, und in welcher möchte sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft aufhalten?“

Ónytjungur: „In der scheinbaren Welt.“

Aldavinur: „Es scheint also der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft, dass sie verstorben sei.“

Ónytjungur: „Das genaue Gegenteil ist der Fall, sie sieht sich in ihrer Blütezeit. Demokratie und Wissenschaft hätte sie emporgehoben aus den Niederungen primitiver Völker und ihre Welt mit Wohlstand und Freiheit angefüllt.“

Aldavinur: „Ist dem nicht so?“

Ónytjungur: „Das kommt auf den Blickwinkel an. In der realen Welt wäre einer sofort zu den Schwachsinnigen gezählt werden, würde er solchen groben Unfug behaupten, in der scheinbaren Welt hingegen erfreut er sich dem zustimmenden Nicken abhängiger Kreaturen, was er irrtümlich als Bestätigung auffasst, statt Ausdruck vorhandener Betriebsblindheit.“

Aldavinur: „Soso.“

Ónytjungur: „Den Gazetten – vormals Quelle faktenbasierter Informationen, auf professioneller Recherche beruhend -, war aufgefallen, dass die Leser am liebsten jenen Gockel hören, der am lautesten kräht …“

Aldavinur: „… was er gewöhnlich auf einem Misthaufen tut …“

Ónytjungur: „… und da die Masse durch faktenbasierte Information zu einer mentalen Leistung aufgefordert wird, welche unter dem Begriff Differenzierung zusammengefasst, daher sehr schnell die Lust verliere,  abwinke, und zu mehr zugänglicheren Themen flüchte …“

Aldavinur: „…  die Sensationslust ist dem aufgeklärten Menschen heilig …“

Ónytjungur: „… daher sich die Gazetten genötigt sahen, die nächste Sensation mit so genannten Schlagzeilen rauszuhauen …“

Aldavinur: „… nach dem Credo ‚Mutter zerstückelte ihre Kindern, BILD sprach zuerst mit den Frikadellen‘, bestens bekannt …“

Ónytjungur: „…  statt die Breitmaulfrösche es unter sich aushandeln zu lassen …“

Aldavinur: „… was aber als Unterdrückung von Meinungsfreiheit aufzufassen wäre, wie du weißt …“

Ónytjungur: … was allerdings eine Behauptung, die grober Unfug ist, Es gibt zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung, von einer Pflicht, auf diese auch einzugehen, ist mir nichts bekannt, und da die Informatik den Breitmaulfröschen hierzu vor etlichen Jahren extra Foren wie Twitter und Instagram geschaffen hatte, auf denen sie sich ihren geistigen Müll gegenseitig um die Ohren hauen können  …“

Aldavinur: „… wohl eher um die Augen …“

Ónytjungur: „… demnach Foren, welche unter Missachtung der Definition des Adjektivs sozial, was bekanntlich eine gemeinnützige, hilfsbereite und barmherzige Handlung bezeichne, in einer kaum noch zu überbietenden Hybris ausgerechnet Soziale Netzwerke genannt wurden, so dass keinem ein Schaden daraus entstehe, folglich bräuchten die Gazetten gar nicht mehr den Sermon der Breitmaulfrösche zu verbreiten, welcher geboren aus Aufregung und Gegenaufregung.“

Aldavinur: „Womit aber die Behauptung nicht erklärt, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten, geschweige denn, was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt.

Ónytjungur: „Gemach, gemach. Verhält es sich nicht so, dass unabhängig vom Herrschaftssystem, nenne sich dieses nun Monarchie, Diktatur oder Demokratie – wobei unter den Wort Demokratie die Aufforderung zu verstehen ist, es habe sich die Nation dem Mehrheitswillen zu unterwerfen, unabhängig davon, von welchem Wahn die Mehrheit gerade heimgesucht werde -, Menschen zu Abertausenden ermordet werden?     

Aldavinur: „Es ist nicht zu leugnen, dass bei einem Vergleich des Verhältnisses der Summe an Getöteten, die im Namen des Guten und im Namen des Bösen ihr Leben verloren, mehr Sorge angebracht wäre wegen jener, die nicht als Verbrecher angesehen.“

Ónytjungur: „Es wird auch kolportiert, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; demnach der Kulminationspunkt im Übergang von der Dummheit zur Aufregung.“

Aldavinur: „Ist es doch die erstrebenswerte Aussicht selbst, welche die Einsicht verhindert.“

Ónytjungur: „Weiterhin, trifft es zu, dass im Verhältnis zur Gesamtheit der Weltbevölkerung  die überwiegende Mehrheit um das Existenzminimum zu kämpfen hat, während einige Leute, welchen unverständlicherweise auch noch Achtung widerfährt, nicht mehr wissen wohin mit all dem Vermögen, welches sich diese angehäuft haben, sich in das Weltall mit Raketen schießen, sich Jachten zulegen, welche mehr einem Kreuzfahrtschiff gleichen als einer Jacht?“  

Aldavinur: „Sozialneid, willst du hier dem Kommunismus oder Sozialismus die Stange halten?“

Ónytjungur: „Keineswegs. Ist es doch gerade der Ismus, der eine an sich vernünftige Idee ins Unvernünftige überführt. Neige ich zu Glaubenssystemen, handelt es sich nicht dabei um eine Landenge, welche zu beiden Seiten von Wasser begrenzt? Vielmehr wäre eine Kleptokratie zu konstatieren, welche von einer Ochlokratie als notwendiges Übel geduldet. Wären diese Ignoranten im Weltall geblieben, es wäre kein Schaden für die Menschheit entstanden.“

Aldavinur: „Zugegeben, die Analogie ist frappierend, allerdings handelt es sich bei einer Landenge um einen Isthmus und nicht um einen Ismus. In aller Regel handelt es sich bei einem Ismus um eine Idee, einen realen komplexen Sachverhalt durch Simplifizierung dahingehend zu nutzen, um sich selbst via Indoktrination in die Position des Herrschers zu manövrieren.“

Ónytjungur: „Die Welt, das wirksame Geschenk, bietet auch die Möglichkeit, von Menschen vorübergehend als Irrenhaus genutzt zu werden. Um irgendeiner Sache willen.“

Aldavinur: „Schon gut, schon gut. Ich weiß Bescheid. So verwies zum Beispiel die generalisierte Eigenschaft Humanismus über die „Bill of Rights“ in die Reservate, über die Demokratie zur Guillotine, und da nicht ausreichend genug, übers Credo der Atombombe zum Clash of Civilisations.

Ónytjungur: „Dies geschah und geschieht im Augenblick, obschon im Gegensatz zu früher, als es noch keine Autos, Flugzeuge, Zeitungen, Radios, TV-Geräte und Internet gab, so dass Kinder betteln mussten ‚Papa, Papa, nimm mich mit ins Nachbardorf, ich will die Welt sehen‘, heutzutage die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft bis zum Abwinken mit einer Informationsüberflutung überschwemmt wird, diese sich desinteressiert heilsuchend in Shows und sonstiger geistiger Unterforderung flüchtet.“

Aldavinur: „Nun, der durch Mehrheit bestimmte Zustand einer Republik lässt sich an jenem Geisteszustand messen, der durch tägliche Einschaltquoten dokumentiert. So wird zum Beispiel unter dem Wort Privatfernsehen ein Zeitgeist verstanden, in welchem heuchlerische Zyniker erbärmlichen Charakteren eingebildete Naivlinge zu präsentieren haben, da zum Einen ein ungeheurer Bedarf danach vorhanden, und zum Anderen sonst die Rechte der Aufklärung auf freie Meinungsäußerung, auf Pressefreiheit, und auf bedarfsgerechte Grundversorgung verletzt werden würden.“

Ónytjungur: „Der das Loch in den Schiffsbauch bohrte, verlangt nach der billigsten Schwimmweste.“

Aldavinur: „In einer Welt der Konsequenzen wähnt – in Hoffnung auf Inkonsequenz – der Mensch vorausschauend eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, rückblickend eine Welt des reinen Zufalls, und nennt diese seine Sichtweise – Evolution.“

Ónytjungur: „Konnte ich dir deutlich machen, wie ich zu der Behauptung komme, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten und was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt?

Aldavinur: „Nun, es erinnert mich an jene Episode, welche über einen Würfel erzählt wird. Ein Tröll starrte ungläubig auf den silbernen, glänzenden Widerstand in seinen Augen, veränderte seinen Standort, erkannte die quadratische, räumliche schwarze Struktur, bewegte sich abermals, bemerkte verblüfft den auftauchenden weißen Kreis im Schnittpunkt der Diagonalen, sinnierte über den nun silbernen oder doch schwarzen Gegenstand mit seinem nun existenten oder doch nicht existenten runden Fleck in der Mitte, reiste von der Umgebung zur Sonne, schlenderte dem am Horizont verschwindenden Lichtstrahl entlang, von Quanten zu Quanten hüpfend, prallte auf die offensichtlich gegenständliche Oberfläche, glitt in bestimmten Winkel auf die Netzhaut, wühlte sich ins spiegelnde Gehirn und erkannte sich erinnernd einen schwarz bemalten Würfel aus Holz. Der Tröll, da nunmal auf Reisen, rammte sich durch dessen Oberfläche, puhlte sich zwängend durch drückende Molekülkugeln, betatschte verinnerlicht zärtlich Atome, setzte sich rapide schrumpfend auf das winzige Elektron, umkreiste den kaum noch sichtbaren, weit entfernten Kern, fühlte seine plötzliche dunkle Einsamkeit in der entleerten Natur, rutschte panisch aus dem Würfel, grabschte kurzentschlossen nach ihm und irritierte den Barkeeper: Würfeln wir einen aus?

Ónytjungur: „Was willst du mir damit sagen?“

Aldavinur: „Da es keine Wege gibt, auf denen sich nichts erfahren ließe, wäre jede Vorschrift über erlaubte und unerlaubte Wege Ausprägung vorhandenen Unwissens, gibt es doch nur nützliche und nutzlose Wege, und wer könnte da wissen, wo doch Nutzen nur Nutzen sein kann, wenn durch ihm kein Schaden bedingt, und auch jeder Weg nur ein einziges Mal begangen wird, da er danach für niemandem mehr begehbar wurde.“

Ónytjungur: „Ich verstehe nur Bahnhof.“

Aldavinur: „Ich will dir damit sagen, dass ich über keinerlei Antworten verfüge. Ich wäre schon froh, wenn es mir gelänge, die richtigen Fragen zu stellen. Magst du mit mir ein Lied singen??

Ónytjungur fasste Aldavinur bei der Hand, beide tanzten einen Reigen auf ihrem Stein und sangen dazu das Lied über die Weisheit:

Wollte sie sich
beschreiben,
sie beschriebe sich
als zwangseingewiesener
Patient,
auf Krücken
durch Korridore
einer Irrenanstalt
humpelnd,
und nicht
als deren
Psychiater.

Wäre ich weise,
oder wenigstens intelligent,
ich befände mich nicht
an jenem Ort
zwischen Traum und Wachsein,
vom Schlaf in den Tag flüchtend,
und vom Tag in den Schlaf.

Die Wohnzimmerkrieger

Bæjarins Besta

Die Trolle Sagnfræðingur und Svikahetja lagen auf dem von der Sonne gewärmten Stein inmitten des Blumenteppichs von Hornstrandir und kamen angesichts der farbenfrohen Blumenarten, welche friedlich sich nebeneinander entwickelten, zu dem Entschluss, sich damit etwas die Zeit zu vertreiben, Annahmen anhand von Gegenüberstellungen einer Überprüfung zu unterziehen.

Sagnfræðingur: „Es gibt nicht nur eine Frontlinie, es sind stets deren sechs, denn die zwei Blöcke an Nationen, die gegeneinander antreten, bilden nur die horizontale Sicht ab. Die alle Nationen umfassende vertikale Sicht benennt allerdings zusätzlich fünf weitere Frontlinien.“

Svikahetja: „Als da wären?“

Sagnfræðingur: „Nun, einmal jener Teil, welcher bereit ist, sich mit Waffen auf das Gebiet einer anderen  Nation in kriegerischer Absicht zu begeben und diese dort einsetzt, dann jener Teil, der nur dazu bereit ist, Waffen innerhalb  der eigenen Nation gegen einen Eindringling aus einer anderen Nation  einzusetzen, und schließlich jener Teil, der aus grundsätzlichen Erwägungen es strikt ablehnt, einen anderen Menschen zu töten.“

Svikahetja: „Ich zähle bisher nur drei weitere Frontlinien.“

Sagnfræðingur: „Nun, dies waren nur jene Frontlinien, welche sich hinsichtlich des persönlichen Gebrauchs von Waffen unterscheiden. Es wären noch jene hinzuzuzählen, welche zwar persönlich keine Waffe gebrauchen, allerdings dieses von anderen Menschen erwarten, beziehungsweise fordern.“

Svikahetja: „Demnach die lautstarke Mehrheit.“

Sagnfræðingur: „Sie werden die Wohnzimmerkrieger genannt, also jene, welche sich in dem Wahn befinden, dass für andere zu gelten habe, was für sie selbst keine Gültigkeit haben dürfe. Gibt es dafür nicht längst einen exakten Begriff?“

Svikahetja: „Nun, diese gehen von dem Grundsatz aus, dass Menschenwürde nicht nur teilbar sei, sondern teilbar sein müsse. Der Begriff hierfür ist auch längst hinlänglich bekannt. Im Englischen gibt es dafür das Wort Nimby, eine Abkürzung für die Entscheidung ‚Not in my backyard‘, anderenorts das Sankt Florian Prinzip genannt: ‚Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!‘“.  

Sagnfræðingur: „André Beaufre, Général d’armée, stellte in seinem Buch ‚Revolutionierung des Kriegsbildes‘ fest, dass alle Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, die Sozialordnung, Wirtschaft, Informationswesen, etc. zu Teilen des Schlachtfeldes geworden seien.“

Svikahetja: „Gilt es nicht, Menschen in ihrer Not beizustehen? Dies nicht zu tun, wäre doch unterlassene Hilfeleistung, oder etwa nicht?“

Sagnfræðingur: „Offensichtlich hatte es sich bei dem General noch nicht herumgesprochen, dass sich die Form der kriegerischen Handlungen in den letzten zwei Jahrtausenden etwas geändert hat.“

Svikahetja: „Als da wäre?

Sagnfræðingur: „Falls ich richtig informiert bin, gab es einst zwei Formen. In der einen Form überfielen Bewaffnete Unbewaffnete, ermordeten, beraubten, vergewaltigten und versklavten diese, in der anderen Form standen sich die bewaffneten Beherrschten unter einem Herrscher sich den bewaffneten Beherrschten eines anderen Herrschers gegenüber und beschränkten sich darauf, sich gegenseitig in einem Event zu ermorden, welcher Schlacht genannt. Wobei in den Geschichtsbüchern festzustellen wäre, dass dies unabhängig von der Herrschaftsform geschah, also sowohl von so genannten Verfassungsstaaten praktiziert wurde, welche laut dem Stagirit dem Gemeinwohl zugewandt seien, demnach den Herrschaftsformen Königtum, Politie und Aristokratie,  als auch von deren Ableitungen, welche dem Eigennutz dienen, also der Oligarchie, Demokratie und Tyrannis.“

Svikahetja: „Nun, wie wir wissen, gibt es heute nur noch jene Herrschaftsformen, in welchen  entweder eine Minderheit aus einem Herrscher und seiner Entourage herrscht, oder eine Masse ihre politischen Entschlüsse als Mehrheit, demnach durch Gewalt durchsetzt. Und?“

Sagnfræðingur: „Verhält es sich nunmehr seit Jahrzehnten nicht so, dass die Form längst nicht mehr stattfindet, in welcher sich die bewaffneten Beherrschten unter einem Herrscher sich den bewaffneten Beherrschten eines anderen Herrschers gegenüberstanden und sich dabei darauf beschränkten, sich gegenseitig in einem Event zu ermorden? Wogegen ja nichts einzuwenden wäre, da bei dieser Form ja nur Bewaffnete gegen Bewaffnete antreten, kein Unbewaffneter dabei zu Schaden kommt, einmal davon abgesehen, dass die daran teilnehmenden Beherrschten zu dieser Tat entweder gezwungen wurden, oder aus Überzeugung daran teilnahmen.“

Svikahetja: „Nun, wir befinden uns nunmehr im Zeitalter der chirurgischen Schläge, sind demnach wieder zu der Form des sauberen Kriegs zurückgekehrt.“

Sagnfræðingur: „Wie wir wissen, dürfte dies einmal als die dreisteste Lüge der so genannten wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaften in die Analen eingehen.  Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Anzahl der unbewaffneten Kinder, Frauen und Männer, welche in diesen so genannten sauberen Kriegen ermordet wurden, mittlerweile Abermillionen Menschen zählen.“  

Svikahetja: „Nun, dies sind mittlerweile keine zivilen Opfer mehr, sondern nur noch  Kollateralschäden.“

Sagnfræðingur: „Falls die Teilnahme an einem Krieg, sei dies nun durch Truppen oder Lieferung von Waffen, die einzige Ultima Ratio bliebe, um sich nicht des Tatbestands der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen, müssten sich demnach dort unten nur Feiglinge und Mitleidlose tummeln, wie etwa Mohandas Karamchand Gandhi. Wie willst du dir dann aber erklären, dass dieser Gemeinschaft dort unten trotz des Umstandes, über keinerlei bewaffnete Streitkräfte zu verfügen, es dennoch gelang, fremde Besatzer von ihrem Land zu vertreiben?“

Svikahetja: „Wie meinen?“

Sagnfræðingur: „Verhält es sich nicht so, dass fremde Truppen einst dieses Land nicht verlassen wollten, obschon deren bekanntgegebener Grund für die Invasion, dieses Land vor Feinden schützen zu müssen, schon längst nicht mehr vorhanden war, da der Feind bedingungslos kapituliert hatte?“

Svikahetja: „Soweit mir bekannt, handelten sie mit dem Treibholz, welches die Treibholzbucht nicht mehr verlassen wollte, einen Vertrag aus, welcher die Besatzung für eine bestimmte Zeitspanne legalisierte, erhielten im Gegenzug dafür die Mitgliedschaft in  der NATO, ohne jedoch jemals hierfür eigene Truppen aufstellen zu müssen, als Sahnehäubchen obendrauf sollen sie sich auch noch den   Bau des internationalen Flughafen Keflavík ausbedungen haben.“

Sagnfræðingur: „Waren dies nicht die Nachfahren jener Menschen, von denen erzählt wird, sie hätten einst andere Länder als Bewaffnete überfallen, dort in der Regel Unbewaffnete ermordet, beraubt, vergewaltigt und versklavt?“

Svikahetja: „So ist es. Ihr Verstand hatte sich weiter entwickelt seit jener Zeit.“

Sagnfræðingur: „Demnach ist es folglich durchaus möglich, dass der Mensch etwas durch Bildung dazulerne?“

Svikahetja: „Durchaus. Kein Politiker dort unten käme auf die skurrile Idee, Streitkräfte aufzustellen oder Waffen zu exportieren. Ein solcher würde – um es mit den Worten von Guðbergur Bergsson auszudrücken – konfirmiert und zu den Schwachsinnigen gezählt werden. Es war davon zu hören, dass einmal einer versucht haben soll, heimlich die Küstenwache mit Maschinenpistolen auszustatten. Als er dabei ertappt wurde, flüchtete er sich in die steile Behauptung, es sei ein Geschenk aus Norwegen gewesen, was der edle Spender prompt als Lüge entlarvte. Die Staatsbürger zeigten dem Dummkopf exemplarisch auf, worin der Unterschied zwischen Politie und Demokratie bestehe. Die Aufgabenteilung der Herrschaftsform Politie, welche keineswegs die Herrschaftsform der Mehrheit, sondern die Herrschaftsform von Arete, führte umgehend dazu, dass die Waffen wieder zurück geschickt wurden. Allerdings verhinderte diese Aufgabenteilung die Möglichkeit, dass sich kriegerisches Gehabe auf Worte beschränken könne, um danach Gefallene als Helden zu ehren, ohne sich an deren Tod jemals auch nur im Geringsten schuldig zu fühlen.“

Sagnfræðingur: „Nun, sie trösten sich über diesen Verlust mit dem Lesen von Sagen und Gedichten hinweg, da in diesen mehr Leben aufzufinden als an jedem Kriegerdenkmal.“.

Svikahetja: „Wie aber könnte ermöglicht werden, dass auch die Wohnzimmerkrieger bei den anderen Nationen diese Evolution durchlaufen?“

Sagnfræðingur: „Nur durch schmecken. Die Literatur bietet daher schon seit tausend Jahren solchen Wohnzimmerkriegern eine Anleitung, welche geeignet ist, ihren groben Unfug entweder zu unterlassen, oder wenigstens konsequent zu sein, denn alles andere könne allen Ernstes nur als Geschwätz und Ochlokratie aufgefasst werden.“

Der Troll Sagnfræðingur fasste Svikahetja bei der Hand und beide sangen voller Hingabe die isländische Empfehlung für Wohnzimmerkrieger.

(16) Ósnjallur maður
hyggst munu ey lifa,
ef hann við víg varast.
En elli gefur
honum engi frið,
þótt honum geirar gefi.

(16) Ein erbärmlicher Mensch
glaubt für immer zu leben
wenn er sich vor der Schlacht hütet.
Alter jedoch gibt
ihm keinen Frieden
auch wenn die Speere ihn gewähren

1) Anm.: Vers 16, „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986