Tilvera: „Du nennst dich Taugenichts, wirst auch so gerufen. Wie kommt es?“
Ónytjungur: „Da musst du jene fragen, die mich so nennen, und jenen, der mir diesen Namen gab.“
Tilvera: „Und aus welchem Grund nennst du dich selbst so?“
Ónytjungur: „Weil ich weiß, dass ich das Ziel immer noch nicht erreicht habe, das ich hätte erreichen können.“
Tilvera: „Und was ist dieses Ziel?“
Ónytjungur: „Das ist der zweite Grund. Ich kenne es nicht. Wozu fragst du?“
Tilvera: „Weil ich nicht verstehe, wozu sich Menschen nicht mit jenem beschäftigen, was geschrieben steht, Satz für Satz, Beschreibung nach Beschreibung, sondern sich nur interessieren, wer geschrieben habe.“
Ónytjungur: „Du nennst dich Sein, wirst auch so gerufen. Wie kommt es?“
Tilvera: „Weil es die einzige Wahrheit ist, die ich kenne, und diese heißt ich bin. Jeder andere Name wäre …“
Ónytjungur: „… kein identifizierendes Merkmal?“
Tilvera: „Wie auch. Wäre ein Name ein identifizierendes Merkmal, so bräuchten die Menschen hier nicht das zweibeinige Lexikon der isländischen Musikgeschichte, Jóhannes, im 12 Tónar im Skólavörðustíg aufsuchen, und ihm die Personen Rúnar und Ragnar in allen Einzelheiten zu beschreiben, um diese nach dreißig Jahren unter der unüberschaubaren Anzahl der Rúnars und Ragnars zu finden. Selbst Jóhannes kann sie nicht anhand derer Namen identifizieren, sondern erst über deren Musik, den Titeln ihrer Lieder, und ihrer Kompositionen.“
Ónytjungur: „So ist es. Und aus welchem Grund redest du nun über Namen, und nicht über Inhalte?“
Tilvera: „Ein Kerl, im Wahn, er sei ein investigativer Journalist, hat sich der Mühe unterzogen, dem Pseudonym einer Autorin nachzuspüren, um selbst endlich einmal berühmt zu werden.“
Ónytjungur: „Offensichtlich ist er zu sinnvoller Tätigkeit völlig untauglich, und hatte daher keine andere Wahl. Was kein Problem sein muss, denn es wird sich niemand dafür interessieren.“
Tilvera: „Dort kümmern sich die Leser mehr darum, wer da spricht, als darum, was einer spricht, und wie einer spricht.“
Ónytjungur: „Da haben sich wohl Ignorant und Dummköpfe getroffen, und sich gegenseitig bestätigt. Was kein Wunder ist, denn eine deren Lieblingsbeschäftigungen war, so hatte ich bei meinen Reisen festzustellen, hinter einem Vorhang stehend andere Leute auszuspähen, um dann über das auf solche Art und Weise Erfahrene sich das Maul zerreißen zu können. Und sie finden dafür an allen Ecken und Enden bereitwilliges Gehör.““
Tilvera: „Sie sagen, sich selbst einen Namen zu geben, sei Ausdruck von Arroganz.“
Ónytjungur: „Sich selbst keinen Namen zu geben, obwohl ein Verlangen danach, ist Ausdruck unverständlicher Hilflosigkeit. Was spräche dagegen?“
Tilvera: „Die Mutmaßung anderer, da wolle einer nicht zu jenem stehen, was er schreibe, oder irgendein anderer Unfug, der solchen dann unterstellt werde.“
Ónytjungur: „Stünde ein solcher nicht zu jenem, was er schreibe, so schriebe er es doch auch nicht. Welche Vorstellungen treiben diese Leute um? Sie schließen doch damit nur unzulässig von sich auf andere, und haben nicht die geringste Ahnung, was einen dazu treibe, sich der qualvollen Mühe zu unterziehen, dem Zwang zu folgen, und Wort für Wort zu finden, Satz für Satz zu formen, und sich damit unweigerlich dem Gespött, oder der Ignoranz, oder der Lobhudelei anderer auszusetzen.“
Tilvera: „Sie sagen, die sicherste Methode, kein Interesse auf die eigene Person zu ziehen, sei gerade der Verzicht auf ein Pseudonym.“
Ónytjungur: „Die sicherste Methode, kein Interesse auf die eigene Person zu ziehen, so scheint mir, ist dort nur darüber erreichbar, etwas Brauchbares zu veröffentlichen.“
Tilvera: „Dichtung und Erzählkunst stehen dort nicht hoch im Kurs.“
Ónytjungur: „Dann stimmt folglich, was die Dichter von diesen zu erzählen wissen.“
Tilvera: „Als da wäre?“
Ónytjungur: „Dass diese nur an der Verbreitung und Veröffentlichung von Meinungen interessiert.“
Tilvera: „Und welche Worte fand der Dichter für eine exakte Beschreibung dessen, was da ist?“
Ónytjungur:
„Unter all den Vögeln
auf dem Krümelacker der Worte
gackern und scharren nur sie
: ununterbrochen
statt das Tirilieren
& Fliegen zu lernen…“
Tilvera: „Ein ungetrübter Blick. Hat er auch Gründe dafür genannt?“
Ónytjungur:
„Konsumartikel Vergnügen
hurt mit der Bürgerlangeweile
Lude Reibach lacht sich eins
ins Fetischlein: gefressen wird,
was Konten schmiert – Gewohnheit
kühlt das letzte kleine Mütchen
unerwünschter Ausbruchsträume …
In stinkender Behaglichkeit
verfaulen Phantasie und Geist,
nur die Moral wird breit und feist
in der Grabesstille der Zufriedenheit.
Tilvera: „Und was unterscheidet diese signifikant von Dichtern?“
Ónytjungur: „Hast du nicht „Die Hände buhlen um meine Gunst“ gelesen?
Tilvera: „Erinnerst du dich noch an jenen Mann, damals nach Weihnacht, der mit zwei prallvoll gefüllten Plastiktaschen in das Restaurant am BSÍ kam, sich einen Kaffee holte, und wir beide vermutet hatten, er ruhe sich vom Rummel im Supermarkt aus? Die Plastiktaschen waren jedoch prall gefüllt mit den neuesten Büchern, welche die Bókaflóð vor die Augen der Menschen trieb. Der Mann nahm Buch für Buch aus den zwei großen Plastiktaschen heraus, öffnete jedes Buch an jener Stelle, die mit einem Lesezeichen markiert, warf einen kurzen Blick auf den noch nicht gehobenen Schatz eines Gedichts oder einer Erzählung, und legte dann das Buch, an dieser Seite geöffnet, vor sich auf den großen Tisch, und wiederholte diesen Vorgang solange, bis der ganze Tisch von aufgeschlagenen Büchern mit einer Tischdecke voller Überraschungen bedeckt. Und dann las er, Stunde um Stunde, vergaß dabei nicht, sich Kaffee bei Bedarf nachzuschenken, da es gute Sitte und alter Brauch, dass stets dann, wenn einer eine Tasse Kaffee bezahle, er nachschenken dürfe, so ihm dies zusagt, und dafür nicht nochmal bezahlen müsse. Mir ergeht es im Augenblick wie jenem Mann, vor mir liegen auch noch einige unentdeckte Schätze. Kannst du das Gedicht daher für mich rezitieren?“
Ónytjungur:
„Fleißig zieht die Rechte
Tintenbahnen über’s Blatt:
hüpft unterwürfig dienstbereit,
meinen Gedanken Form zu geben;
derweil die Linke ruht
& katzenartig eingerollt
den Augenblick erschnurrt,
meinem Mund den Wein zu reichen.“
Tilvera: „Das ist es, warum die Bókaflóð hier alljährlich von allen sehnsüchtig erwartet wird. Sie schätzen die Kunst, Gedanken Formen geben zu können. Und dort?“
Ónytjungur: „Der dort durch Mehrheit bestimmte Zustand einer Gesellschaft lässt sich an jenem Geisteszustand messen, der durch tägliche Einschaltquoten dokumentiert.“
Tilvera: „Sie schätzen dort solche Geschichten, in welchen heuchlerische Zyniker erbärmlichen Charakteren eingebildete Naivlinge präsentieren, da zum Einen ein ungeheurer Bedarf danach vorhanden, und zum Anderen sonst die Rechte der Aufklärung auf freie Meinungsäußerung, auf Pressefreiheit, und auf bedarfsgerechte Grundversorgung verletzt.“
Ónytjungur: „Dann haben sie nichts anderes verdient.“
Tilvera: „Was haben sie verdient?“
Ónytjungur
„Die Gaffer bilden eine Gasse
unter dem Hochseil, um bei
meinem Aufschlag nicht von
herumspritzendem Hirn
bekleckert zu werden;
stehen aber nahe genug,
möglichst deutlich das
KLATSCH
zu hören – während ich,
konzentriert balancierend,
zufrieden errechne, dass ich
mit einigem Schwung bei
parabolischer Flugbahn
weit genug käme, um
wenigstens einige ihrer
frisch geputzten Schuhe
zu besudeln.“
Tilvera: „In der Tat. Erst das Werk ist ein identifizierendes Merkmal. Wozu waren dann die Leute so erpicht auf den Namen der Autorin?“
Ónytjungur: „Um endlich einen unbeschrifteten Stempel zu haben, auf dem jeder nach Gusto seine eigene Beschriftung über die Autorin anbringen kann, die mit einer exakten Beschreibung nicht das Geringste zu tun hat. Wer in Schubladen denkt, hat keine Ahnung vom Schrank. Sie nennen es Intelligenz. „
Tilvera: „Und? Hat Jóhannes auf Grundlage deiner Beschreibung Rúnar und Ragnar gefunden?“
Ónytjungur: „Ich bin es gewohnt, nur das Wesentliche zu beschreiben, den Inhalt. Es war ihm daher ein Leichtes.“
Die zitierten Gedichte: „Balanceakt“,Songs, Lyrik & Aphorismen, Werner Friebel
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