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Die Wohnzimmerkrieger

Bæjarins Besta

Die Trolle Sagnfræðingur und Svikahetja lagen auf dem von der Sonne gewärmten Stein inmitten des Blumenteppichs von Hornstrandir und kamen angesichts der farbenfrohen Blumenarten, welche friedlich sich nebeneinander entwickelten, zu dem Entschluss, sich damit etwas die Zeit zu vertreiben, Annahmen anhand von Gegenüberstellungen einer Überprüfung zu unterziehen.

Sagnfræðingur: „Es gibt nicht nur eine Frontlinie, es sind stets deren sechs, denn die zwei Blöcke an Nationen, die gegeneinander antreten, bilden nur die horizontale Sicht ab. Die alle Nationen umfassende vertikale Sicht benennt allerdings zusätzlich fünf weitere Frontlinien.“

Svikahetja: „Als da wären?“

Sagnfræðingur: „Nun, einmal jener Teil, welcher bereit ist, sich mit Waffen auf das Gebiet einer anderen  Nation in kriegerischer Absicht zu begeben und diese dort einsetzt, dann jener Teil, der nur dazu bereit ist, Waffen innerhalb  der eigenen Nation gegen einen Eindringling aus einer anderen Nation  einzusetzen, und schließlich jener Teil, der aus grundsätzlichen Erwägungen es strikt ablehnt, einen anderen Menschen zu töten.“

Svikahetja: „Ich zähle bisher nur drei weitere Frontlinien.“

Sagnfræðingur: „Nun, dies waren nur jene Frontlinien, welche sich hinsichtlich des persönlichen Gebrauchs von Waffen unterscheiden. Es wären noch jene hinzuzuzählen, welche zwar persönlich keine Waffe gebrauchen, allerdings dieses von anderen Menschen erwarten, beziehungsweise fordern.“

Svikahetja: „Demnach die lautstarke Mehrheit.“

Sagnfræðingur: „Sie werden die Wohnzimmerkrieger genannt, also jene, welche sich in dem Wahn befinden, dass für andere zu gelten habe, was für sie selbst keine Gültigkeit haben dürfe. Gibt es dafür nicht längst einen exakten Begriff?“

Svikahetja: „Nun, diese gehen von dem Grundsatz aus, dass Menschenwürde nicht nur teilbar sei, sondern teilbar sein müsse. Der Begriff hierfür ist auch längst hinlänglich bekannt. Im Englischen gibt es dafür das Wort Nimby, eine Abkürzung für die Entscheidung ‚Not in my backyard‘, anderenorts das Sankt Florian Prinzip genannt: ‚Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!‘“.  

Sagnfræðingur: „André Beaufre, Général d’armée, stellte in seinem Buch ‚Revolutionierung des Kriegsbildes‘ fest, dass alle Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, die Sozialordnung, Wirtschaft, Informationswesen, etc. zu Teilen des Schlachtfeldes geworden seien.“

Svikahetja: „Gilt es nicht, Menschen in ihrer Not beizustehen? Dies nicht zu tun, wäre doch unterlassene Hilfeleistung, oder etwa nicht?“

Sagnfræðingur: „Offensichtlich hatte es sich bei dem General noch nicht herumgesprochen, dass sich die Form der kriegerischen Handlungen in den letzten zwei Jahrtausenden etwas geändert hat.“

Svikahetja: „Als da wäre?

Sagnfræðingur: „Falls ich richtig informiert bin, gab es einst zwei Formen. In der einen Form überfielen Bewaffnete Unbewaffnete, ermordeten, beraubten, vergewaltigten und versklavten diese, in der anderen Form standen sich die bewaffneten Beherrschten unter einem Herrscher sich den bewaffneten Beherrschten eines anderen Herrschers gegenüber und beschränkten sich darauf, sich gegenseitig in einem Event zu ermorden, welcher Schlacht genannt. Wobei in den Geschichtsbüchern festzustellen wäre, dass dies unabhängig von der Herrschaftsform geschah, also sowohl von so genannten Verfassungsstaaten praktiziert wurde, welche laut dem Stagirit dem Gemeinwohl zugewandt seien, demnach den Herrschaftsformen Königtum, Politie und Aristokratie,  als auch von deren Ableitungen, welche dem Eigennutz dienen, also der Oligarchie, Demokratie und Tyrannis.“

Svikahetja: „Nun, wie wir wissen, gibt es heute nur noch jene Herrschaftsformen, in welchen  entweder eine Minderheit aus einem Herrscher und seiner Entourage herrscht, oder eine Masse ihre politischen Entschlüsse als Mehrheit, demnach durch Gewalt durchsetzt. Und?“

Sagnfræðingur: „Verhält es sich nunmehr seit Jahrzehnten nicht so, dass die Form längst nicht mehr stattfindet, in welcher sich die bewaffneten Beherrschten unter einem Herrscher sich den bewaffneten Beherrschten eines anderen Herrschers gegenüberstanden und sich dabei darauf beschränkten, sich gegenseitig in einem Event zu ermorden? Wogegen ja nichts einzuwenden wäre, da bei dieser Form ja nur Bewaffnete gegen Bewaffnete antreten, kein Unbewaffneter dabei zu Schaden kommt, einmal davon abgesehen, dass die daran teilnehmenden Beherrschten zu dieser Tat entweder gezwungen wurden, oder aus Überzeugung daran teilnahmen.“

Svikahetja: „Nun, wir befinden uns nunmehr im Zeitalter der chirurgischen Schläge, sind demnach wieder zu der Form des sauberen Kriegs zurückgekehrt.“

Sagnfræðingur: „Wie wir wissen, dürfte dies einmal als die dreisteste Lüge der so genannten wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaften in die Analen eingehen.  Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Anzahl der unbewaffneten Kinder, Frauen und Männer, welche in diesen so genannten sauberen Kriegen ermordet wurden, mittlerweile Abermillionen Menschen zählen.“  

Svikahetja: „Nun, dies sind mittlerweile keine zivilen Opfer mehr, sondern nur noch  Kollateralschäden.“

Sagnfræðingur: „Falls die Teilnahme an einem Krieg, sei dies nun durch Truppen oder Lieferung von Waffen, die einzige Ultima Ratio bliebe, um sich nicht des Tatbestands der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen, müssten sich demnach dort unten nur Feiglinge und Mitleidlose tummeln, wie etwa Mohandas Karamchand Gandhi. Wie willst du dir dann aber erklären, dass dieser Gemeinschaft dort unten trotz des Umstandes, über keinerlei bewaffnete Streitkräfte zu verfügen, es dennoch gelang, fremde Besatzer von ihrem Land zu vertreiben?“

Svikahetja: „Wie meinen?“

Sagnfræðingur: „Verhält es sich nicht so, dass fremde Truppen einst dieses Land nicht verlassen wollten, obschon deren bekanntgegebener Grund für die Invasion, dieses Land vor Feinden schützen zu müssen, schon längst nicht mehr vorhanden war, da der Feind bedingungslos kapituliert hatte?“

Svikahetja: „Soweit mir bekannt, handelten sie mit dem Treibholz, welches die Treibholzbucht nicht mehr verlassen wollte, einen Vertrag aus, welcher die Besatzung für eine bestimmte Zeitspanne legalisierte, erhielten im Gegenzug dafür die Mitgliedschaft in  der NATO, ohne jedoch jemals hierfür eigene Truppen aufstellen zu müssen, als Sahnehäubchen obendrauf sollen sie sich auch noch den   Bau des internationalen Flughafen Keflavík ausbedungen haben.“

Sagnfræðingur: „Waren dies nicht die Nachfahren jener Menschen, von denen erzählt wird, sie hätten einst andere Länder als Bewaffnete überfallen, dort in der Regel Unbewaffnete ermordet, beraubt, vergewaltigt und versklavt?“

Svikahetja: „So ist es. Ihr Verstand hatte sich weiter entwickelt seit jener Zeit.“

Sagnfræðingur: „Demnach ist es folglich durchaus möglich, dass der Mensch etwas durch Bildung dazulerne?“

Svikahetja: „Durchaus. Kein Politiker dort unten käme auf die skurrile Idee, Streitkräfte aufzustellen oder Waffen zu exportieren. Ein solcher würde – um es mit den Worten von Guðbergur Bergsson auszudrücken – konfirmiert und zu den Schwachsinnigen gezählt werden. Es war davon zu hören, dass einmal einer versucht haben soll, heimlich die Küstenwache mit Maschinenpistolen auszustatten. Als er dabei ertappt wurde, flüchtete er sich in die steile Behauptung, es sei ein Geschenk aus Norwegen gewesen, was der edle Spender prompt als Lüge entlarvte. Die Staatsbürger zeigten dem Dummkopf exemplarisch auf, worin der Unterschied zwischen Politie und Demokratie bestehe. Die Aufgabenteilung der Herrschaftsform Politie, welche keineswegs die Herrschaftsform der Mehrheit, sondern die Herrschaftsform von Arete, führte umgehend dazu, dass die Waffen wieder zurück geschickt wurden. Allerdings verhinderte diese Aufgabenteilung die Möglichkeit, dass sich kriegerisches Gehabe auf Worte beschränken könne, um danach Gefallene als Helden zu ehren, ohne sich an deren Tod jemals auch nur im Geringsten schuldig zu fühlen.“

Sagnfræðingur: „Nun, sie trösten sich über diesen Verlust mit dem Lesen von Sagen und Gedichten hinweg, da in diesen mehr Leben aufzufinden als an jedem Kriegerdenkmal.“.

Svikahetja: „Wie aber könnte ermöglicht werden, dass auch die Wohnzimmerkrieger bei den anderen Nationen diese Evolution durchlaufen?“

Sagnfræðingur: „Nur durch schmecken. Die Literatur bietet daher schon seit tausend Jahren solchen Wohnzimmerkriegern eine Anleitung, welche geeignet ist, ihren groben Unfug entweder zu unterlassen, oder wenigstens konsequent zu sein, denn alles andere könne allen Ernstes nur als Geschwätz und Ochlokratie aufgefasst werden.“

Der Troll Sagnfræðingur fasste Svikahetja bei der Hand und beide sangen voller Hingabe die isländische Empfehlung für Wohnzimmerkrieger.

(16) Ósnjallur maður
hyggst munu ey lifa,
ef hann við víg varast.
En elli gefur
honum engi frið,
þótt honum geirar gefi.

(16) Ein erbärmlicher Mensch
glaubt für immer zu leben
wenn er sich vor der Schlacht hütet.
Alter jedoch gibt
ihm keinen Frieden
auch wenn die Speere ihn gewähren

1) Anm.: Vers 16, „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986