„Mehr Licht!“ soll angeblich Goethe gefordert haben, kurz bevor das Leben aus ihm wich. Stürbe er in heutigen Zeiten, so wäre ihm gut und gerne die gegenteilige Äußerung zuzuschreiben: „Weniger Licht, bitte!“
Du kennst die Schattenseiten am besten, lieber Skuggi*, und benötigst kein Lamento über Lichtverschmutzung und das paradoxe Phänomen, dass menschengemachtes Licht den Sternenhimmel nachhaltig verdunkelt.
Am 28. September 2016 jährte sich zum zehnten Male die Nacht, in der in Reykjavík alle Lichter ausgingen. Der Schriftsteller Andri Snær Magnason hatte die Aktion Lights Off Stars On ins Leben gerufen, denn, so seine Botschaft, Perfect Black reveals Perfect Nature. Und in der Tat, die Stadtbewohner staunten über die Pracht des wiedergewonnenen Sternenhimmels und manch einer erschrak beim Anblick der vom Sternenlicht unterstrichenen Schwärze des Universums.
Die Sterne senden in einer klaren Nacht immerhin so viel Licht aus, dass jeder Mensch, der nicht nachtblind ist, sich ohne Hilfsmittel orientieren kann. Aber nur dem Mond gelingt es, Lichteffekte wie Schattenwurf oder den selten beobachteten Mondbogen zu erzeugen. Wenn du aber ein einfaches Mondlicht-Experiment machen willst, dann gehe in einer Vollmondnacht einen unbeleuchteten Weg so entlang, dass du den noch ziemlich tiefstehenden Mond im Rücken hast. Er wird dir einen wunderbaren Schatten schenken, der dir voraus schreitet. Und du weißt ja: Der Schatten eines Körpers, der von einer Lichtquelle erzeugt wird, ist exakt berechenbar. Aber nun nimm einen Fotoapparat zu Hand und knipse deinen Schatten. Mit Blitzlicht erhältst du ein klares Foto des Weges und seiner näheren Umgebung – nur, was fehlt, ist dein Schatten. Also: Mit mehr Licht lässt sich ein Schatten unsichtbar machen. Was auch bedeuten kann: Zuviel Licht nimmt jedem Wesen seinen Schatten, und ohne Schatten bist du nur ein armer Schlemihl.
Licht ist keine Mangelware in den Städten, von Reykjavík bis Berlin, von Hammerfest bis Kapstadt. Ungeachtet dessen erfreut sich Leuchtkunst im öffentlichen Raum zur Erhöhung des Lichtaufkommens wachsender Beliebtheit. Dass Polarkreisanrainer in den langen Wintern, in denen die Sonne allenfalls kurze Gastspiele im Südosten veranstaltet, allerlei Lichtexzesse begehen, ist sonnenklar und verständlich. Jedoch würde es in Island niemandem einfallen, in den Sommermonaten einen so genannten Lichtparcours auszurichten. Denn dies besorgt die natürliche Solarquelle, auch Sonne genannt, die sich im Nordwesten unterhalb des Horizonts an den Norden heranschleicht, um kurz danach wieder aufzutauchen und die Nacht zum Tage zu machen, und dies ausdauernder, als manch schlafbedürftigem Erdenwesen zuträglich ist. Eines gar seufzte, als sich um Mittsommer die sonnigen Tage gar nicht mehr zu neigen schienen: „Nur einen einzigen stark bewölkten, regnerischen Tag, bitte!“ An wen diese Bitte gerichtet war, ist nicht bekannt.
In der norddeutschen Stadt Braunschweig ist kürzlich ein mehrmonatiger Lichtparcours zu Ende gegangen. Sich an dieser sommerlichen Erleuchtung zu beteiligen, war sicherlich eine besondere Herausforderung an isländische Künstler. Elín Hansdóttir hat sie angenommen. Auf ihrer Internetseite stellt sie ihr künstlerisches Konzept vor:
„Elín Hansdóttir ist eine isländische Künstlerin in Berlin. Ihre standortspezifischen Installationen richten sich durch Manipulation von architektonischen Formen, akustischen Elementen und optisches Spiel auf des Betrachters Erfahrung von Baulandschaften Sie schafft in sich geschlossene Welten, die unter ihren eigenen Regeln zu agieren scheinen, indem sie einen harmlosen Raum in einen verwandelt, der sich über Erwartungen hinwegsetzt und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren scheint.“ (Original auf Englisch)
Auf dem Grünstreifen, der die Fahrspuren entlang des Braunschweiger Bruchtorwalls teilt, stand den Sommer über Elíns CAST, ein aus Holz errichtetes zweiteiliges Objekt. Während es sich zur bebauten Wallseite geschlossen präsentierte, fehlte den Wänden zur Parkseite hin jedes zweite Brett, so dass lichtdurchlässige Zwischenräume entstanden.
Alle Installationen des diesjährigen Braunschweiger Lichtparcours sollten auch bei Tage ansehnlich sein, doch CAST war das einzige, das bei Dunkelheit ohne eigene Lichtquelle auskam. Das unbeleuchtete Lichtobjekt reflektierte das vorhandene Licht, am Tage das Sonnenlicht und nachts Scheinwerfer, Straßenlaterne und Mondlicht.
War CAST eine Gussform, in die sich eigene Vorstellungen einbringen und herausschälen lassen?
Auf der Informationsseite des Parcours steht das Wort „kompassförmig“ – eine Vorstellung, die sich möglicherweise bei der Draufsicht auf das Modell bildete, der aber die Richtung fehlte. Denn ob die Magnetnadel eher gen Ost oder West zeigte, ließe sich nicht erkennen.
Vom östlich gelegenen Lessingplatz kommend, hättest du möglicherweise den Eindruck gehabt, auf den Bug eines Bootes zuzugehen, eines schmalen Schiffes, das in der offenen Mitte zum Einstieg einlädt. Das aber auch mittschiffs auseinandergebrochen sein könnte: Ein zu volles Bootes, das mitten im gleichgültigen Strom der Vorbeieilenden kentert.
Von der Parkseite betrachtet glich CAST eher einem Bollwerk, jedoch verlockte die Lücke in der Palisade zur Erkundung. Und beim Verweilen in einem der beiden Räume hättest du dich abwechselnd geborgen oder vergittert vorkommen können, oder als Späher (ich sehe was, was mich nicht sieht).
Den Formwandlungen entsprechend veränderten sich ständig Licht und Schatten in und um CAST. Und so wäre dies unspektakulärste Lichtparcours-Objekt vielleicht für dich das Interessante gewesen mit seinen Übergängen von Hell zu Dunkel, mit seinen Kontrasten und Schattenfarben, die sich, beeinflusst durch äußere Faktoren wie Tageszeit und Lichtverhältnisse, ständig veränderten und nachts in Bewegung gerieten. Noch Tage nach seinem Abbau, ist ein Abdruck der Form geblieben, umspielt von Licht und Schatten.
* Skuggi, das isländische Wort für Schatten, es ist auch ein Vorname, der allerdings aus der Mode gekommen ist.