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Arktische Geschichten von Wasser und Eis

Kunst und Wissenschaft kommen nicht oft zusammen, doch dann entsteht eine ganz eigene Spannung. So an dem Abend „Sagnakvöld – Stories and impressions from the North“, einer deutsch-isländischen Veranstaltung in Bremerhaven, eröffnet von der isländischen Botschafterin María Erla Marelsdóttir.

Kann ich mir das vorstellen? Ich blicke auf die Rednerin. Es ist Montagabend, der 30. Mai in Bremerhaven. Der Vortragssaal im Fischbahnhof ist fensterlos und beleuchtet. Draußen scheint die Sonne.

„Der Ausstoß einer Tonne CO2 bedeutet den Verlust von 3 m² Meereseis.“ Kann ich mir das vorstellen? Nicht so ganz. Ich wende den Blick zur Leinwand, auf der Fotos und Grafiken erscheinen. Die Frau am Rednerpult, Prof. Antje Boetius, ist Leiterin des Alfred-Wegener-Institutes. Sie berichtet von dem Forschungsschiff Polarstern, vom Ökosystem unter dem Eis, von dem Tauchroboter, der Daten und Bilder vom Meeresgrund, dem vulkanisch aktiven Gakkelrückens liefert. Die Fotografin Esther Horvath veranschaulicht weiter die Arbeit des Institutes. Sie hat dreieinhalb Monate lang die internationale MOSAic-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate, 2019/20) auf der Polarstern fotografisch begleitet. Die gebürtige Ungarin erzählt begeistert von der Polarnacht in der Arktis und zeigt in ihren Bildern den rauen Alltag von Forschern und Mannschaft. Klirrende Kälte, Stürme, Dunkelheit. Jede Tätigkeit auf dem Eis muss von einer Eisbärenwache abgesichert werden. Neben der eingefrorenen Polarstern wird Fußball gespielt und ein Matrose eröffnet nach Dienstschluss einen Friseursalon.

Geschichten in Bildern.

Die Abendveranstaltung heißt Sagnakvöld. Das ist Isländisch und heißt Geschichtenabend. Und für Bildergeschichten aus der Arktis steht auch der zweite Fotograf, der an diesem Abend seine Bilder zeigt: Island, Grönland, Sibirien, Kanada – der Isländer Ragnar Axelsson, kurz RAX genannt, hat Menschen, Tiere und Landschaften der arktischen Regionen, die Umbrüche im Leben der Inuit, die Strukturen des Eises, das Schwinden der Gletscher und die verengten Lebensräume der Tierwelt in unglaublich eindrucksvollen Schwarzweißfotos dokumentiert. Vor Kurzem ist seine Ausstellung Where the world is melting in München zu Ende gegangen. In Bremerhaven zeigt RAX im Schnelldurchgang einen Querschnitt aus seiner Arbeit.

(c) Bernhild Vögel

In der Ausstellung hafið – Reflections of the Sea  (zu sehen vom 14.07. bis 17.08.2022 im Schaufenster des Fischbahnhofs) wird eine kurze Bilderfolge von Ragnar Axelssons Grönlandfotos eingeblendet:
Schlittenhunde stehen dabei im Mittelpunkt und ich habe das Bild des vorbeihetzenden Hundes vor Augen, wenn ich an Ragnars eindringliche Worte denke: We are running out of time.

Im Schnitt verursacht jeder Deutsche einen CO2-Ausstoß von ca. 10 Tonnen pro Jahr. Mit dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes lässt sich der ganz persönliche Anteil ausrechnen. Obwohl ich passionierte Fußgängerin bin und kein Auto besitze, schlagen meine Islandflüge ordentlich zu Buche. Ob 30 m² Eisschwund/pro Kopf oder etwas weniger: Wenn wir so weiter konsumieren wie bisher, sind die Pole in 30 Jahren abgetaut. Das finde ich erschreckend vorstellbar. Auch wenn ich dann schon längst tot bin: Die Kinder und Enkel werden die Folgen tragen müssen.

Ragnar Axelsson und Andri Snær Magnason

Am Rednerpult steht jetzt Andri Snær Magnason.  Ich kenne den Schriftsteller seit vielen Jahren. 2010 erhielt er den Kairos-Preis der Alfred-Töpfer-Stiftung in Hamburg und ich berichtete darüber in der IcelandReview:

Wichtigstes Werk des 36-jährigen Autors ist das 2006 erschienene Sachbuch Draumalandið (Traumland) und die gleichnamige Filmdokumentation. Schon vor der isländischen Krise hat der Autor davor gewarnt, die einzigartige isländische Natur dem Energiewahn und Konsumrausch zu opfern.
Am Beispiel des gigantischen Kárahnjúkar-Staudamm-Projektes – gebaut um den Strombedarf einer einzigen Aluminiumschmelze zu befriedigen – stellt Magnason einfache, aber unbequeme Fragen und rechnet vor, wie scheinbar profitable Rechnungen weder für Mensch noch Umwelt aufgehen.“

Andri Snær war mit seiner Familie nach Hamburg gekommen. Die jüngste Tochter, Hulda Filippía, (geb. 2008) war noch nicht auf dem Familienfoto, das ich nach der Preisverleihung machte. Etwa ein Jahrzehnt später, als der Schriftsteller für sein neues Buch recherchierte, stellte er Hulda Filippía ein paar Rechenaufgaben nachzulesen in seinem Buch Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft und nachzuhören auf Vimeo.

In Bremerhaven blendet Andri Snær ein Bild ein, auf dem nur 2160? steht. Eine Jahreszahl in ferner Zukunft, einem Jahr, in dem die Urenkeltochter meiner Enkelin eine rüstige Rentnerin sein könnte. Gesetzt den Fall, meine Enkelin wird ihre Urenkelin noch kennen lernen, so wie sie selbst als Kind ihre Urgroßmutter erlebt hat, dann würde sie so Andri Snær einen Generationen-Handschlag über ungefähr 250 Jahre machen können. Kümmern wir uns durch gegenwärtiges Handeln um die Gestaltung der Zukunft das ist seine Botschaft seit Jahrzehnten. Mal sarkastisch, mal augenzwinkernd, mal streng sachlich, ob in Gedichtform (Bónus Supermarktgedichte 1996, dt. 2011), Romanen und Kinderbüchern (Geschichte vom blauen Planeten, 1999, dt. 2007) oder Sachbüchern (Traumland 2006, dt. 2011, Zeit und Wasser, 2019, Zeit und Wasser, 2019, übersetzt von Tina Flecken, 2020).

Einzellige Algen benötigen zum Kalkaufbau CO2 sterben sie ab, binden sie auf dem Meeresgrund das eingelagerte Kohlendioxid. Doch unser hoher CO2-Ausstoß führt zur Erwärmung der Meere und ihrer Versauerung, wodurch der Kalkaufbau gestört wird mit der Folge, dass die Ozeane weniger CO2 binden können. Auch viele kalkbildende Lebewesen sind bedroht, und damit die gesamte Nahrungskette. Andri Snær beschreibt eindringlich diese Gefahren und verwebt sie mit persönlichen Geschichten.

Am meisten hat mich im Buch Wasser und Zeit die Geschichte mit der Kuh beeindruckt, auch wenn sie Andri Snær in Bremerhaven nicht zur Sprache bringt. Die mysteriöse, aus Reif geborene Urkuh Auðhumla der nordischen Mythologie hat sie ihren Ursprung im Himalaja und seinen Gletschern, aus denen milchige Ströme in alle Himmelsrichtungen fließen? Und was, wenn die heilige Kuh verendet und ihre lebensspendende Milch sich in reißende Fluten verwandelt, die katastrophale Überschwemmungen verursachen?  Auðhumla nichts als eine poetische Metapher? Mich würde interessieren, was Svenja dazu sagt. Ich unterhielt mich nach der Veranstaltung mit ihrer Mutter, während die Abiturientin Andri Snærs Buch kaufte und von ihm signieren ließ. Svenja Paulsen ist bereits eine preisgekrönte Forscherin und wird bald auch ein Praktikum beim Alfred-Wegener-Institut beginnen.

Auðhumla nur eine poetische Metapher? Und wenn schon! Auch Steinunn Sigurdardóttir, Islands wohl bekannteste Dichterin, beschwört in ihrem neuen Gedichtband Nachtdämmern (übersetzt von Kristof Magnusson) die bedrohte Schönheit des sterbenden Gletschers Vatnajökull (Wassergletscher) und verwendet die Kuh-Metapher:

sobald die gletscherkuh gebiert, ein eiskalb
aus dem mutterleib presst, da
stirbt ein teil von ihr. Und die nachkommen
strampeln eine weile.
Manche schaffen es aus der sandkiste der
lagune auf das erwachsenenmeer,
die offene see, in ihrem kurzen schönen
leben.

Bernhild Vögel, 15.6.2022

Lichtbrief an Skuggi

bv1„Mehr Licht!“ soll angeblich Goethe gefordert haben, kurz bevor das Leben aus ihm wich. Stürbe er in heutigen Zeiten, so wäre ihm gut und gerne die gegenteilige Äußerung zuzuschreiben: „Weniger Licht, bitte!“

Du kennst die Schattenseiten am besten, lieber Skuggi*, und benötigst kein Lamento über Lichtverschmutzung und das paradoxe Phänomen, dass menschengemachtes Licht den Sternenhimmel nachhaltig verdunkelt.

Am 28. September 2016 jährte sich zum zehnten Male die Nacht, in der in Reykjavík alle Lichter ausgingen. Der Schriftsteller Andri Snær Magnason hatte die Aktion Lights Off Stars On ins Leben gerufen, denn, so seine Botschaft, Perfect Black reveals Perfect Nature. Und in der Tat, die Stadtbewohner staunten über die Pracht des wiedergewonnenen Sternenhimmels und manch einer erschrak beim Anblick der vom Sternenlicht unterstrichenen Schwärze des Universums.

Die Sterne senden in einer klaren Nacht immerhin so viel Licht aus, dass jeder Mensch, der nicht nachtblind ist, sich ohne Hilfsmittel orientieren kann. Aber nur dem Mond gelingt es, Lichteffekte wie Schattenwurf oder den selten beobachteten Mondbogen zu erzeugen. Wenn du aber ein einfaches Mondlicht-Experiment machen willst, dann gehe in einer Vollmondnacht einen unbeleuchteten Weg so entlang, dass du den noch ziemlich tiefstehenden Mond im Rücken hast. Er wird dir einen wunderbaren Schatten schenken, der dir voraus schreitet. Und du weißt ja: Der Schatten eines Körpers, der von einer Lichtquelle erzeugt wird, ist exakt berechenbar. Aber nun nimm einen Fotoapparat zu Hand und knipse deinen Schatten. Mit Blitzlicht erhältst du ein klares Foto des Weges und seiner näheren Umgebung – nur, was fehlt, ist dein Schatten. Also: Mit mehr Licht lässt sich ein Schatten unsichtbar machen. Was auch bedeuten kann: Zuviel Licht nimmt jedem Wesen seinen Schatten, und ohne Schatten bist du nur ein armer Schlemihl.

Licht ist keine Mangelware in den Städten, von Reykjavík bis Berlin, von Hammerfest bis Kapstadt. Ungeachtet dessen erfreut sich Leuchtkunst im öffentlichen Raum zur Erhöhung des Lichtaufkommens wachsender Beliebtheit. Dass Polarkreisanrainer in den langen Wintern, in denen die Sonne allenfalls kurze Gastspiele im Südosten veranstaltet, allerlei Lichtexzesse begehen, ist sonnenklar und verständlich. Jedoch würde es in Island niemandem einfallen, in den Sommermonaten einen so genannten Lichtparcours auszurichten. Denn dies besorgt die natürliche Solarquelle, auch Sonne genannt, die sich im Nordwesten unterhalb des Horizonts an den Norden heranschleicht, um kurz danach wieder aufzutauchen und die Nacht zum Tage zu machen, und dies ausdauernder, als manch schlafbedürftigem Erdenwesen zuträglich ist. Eines gar seufzte, als sich um Mittsommer die sonnigen Tage gar nicht mehr zu neigen schienen: „Nur einen einzigen stark bewölkten, regnerischen Tag, bitte!“ An wen diese Bitte gerichtet war, ist nicht bekannt.

In der norddeutschen Stadt Braunschweig ist kürzlich ein mehrmonatiger Lichtparcours zu Ende gegangen. Sich an dieser sommerlichen Erleuchtung zu beteiligen, war sicherlich eine besondere Herausforderung an isländische Künstler. Elín Hansdóttir hat sie angenommen. Auf ihrer Internetseite stellt sie ihr künstlerisches Konzept vor:

innen„Elín Hansdóttir ist eine isländische Künstlerin in Berlin. Ihre standortspezifischen Installationen richten sich durch Manipulation von architektonischen Formen, akustischen Elementen und optisches Spiel auf des Betrachters Erfahrung von Baulandschaften  Sie schafft in sich geschlossene Welten, die unter ihren eigenen Regeln zu agieren scheinen, indem sie einen harmlosen Raum in einen verwandelt, der sich über Erwartungen hinwegsetzt und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren scheint.“ (Original auf Englisch)

Auf dem Grünstreifen, der die Fahrspuren entlang des Braunschweiger Bruchtorwalls teilt, stand den Sommer über Elíns CAST, ein aus Holz errichtetes zweiteiliges Objekt. Während es sich zur bebauten Wallseite geschlossen präsentierte, fehlte den Wänden zur Parkseite hin jedes zweite Brett, so dass lichtdurchlässige Zwischenräume entstanden.

nacht2Alle Installationen des diesjährigen Braunschweiger Lichtparcours sollten auch bei Tage ansehnlich sein, doch CAST war das einzige, das bei Dunkelheit ohne eigene Lichtquelle auskam. Das unbeleuchtete Lichtobjekt reflektierte das vorhandene Licht, am Tage das Sonnenlicht und nachts Scheinwerfer, Straßenlaterne und Mondlicht.

War CAST eine Gussform, in die sich eigene Vorstellungen einbringen und herausschälen lassen?

Auf der Informationsseite des Parcours steht das Wort „kompassförmig“ – eine Vorstellung, die sich möglicherweise bei der Draufsicht auf das Modell bildete, der aber die Richtung fehlte. Denn ob die Magnetnadel eher gen Ost oder West zeigte, ließe sich nicht erkennen.

nacht1Vom östlich gelegenen Lessingplatz kommend, hättest du möglicherweise den Eindruck gehabt, auf den Bug eines Bootes zuzugehen, eines schmalen Schiffes, das in der offenen Mitte zum Einstieg einlädt. Das aber auch mittschiffs auseinandergebrochen sein könnte: Ein zu volles Bootes, das mitten im gleichgültigen Strom der Vorbeieilenden kentert.

Von der Parkseite betrachtet glich CAST eher einem Bollwerk, jedoch verlockte die Lücke in der Palisade zur Erkundung. Und beim Verweilen in einem der beiden Räume hättest du dich abwechselnd geborgen oder vergittert vorkommen können, oder als Späher (ich sehe was, was mich nicht sieht).

Den Formwandlungen entsprechend veränderten sich ständig Licht und Schatten in und um CAST. Und so wäre dies unspektakulärste Lichtparcours-Objekt vielleicht für dich das Interessante gewesen mit seinen Übergängen von Hell zu Dunkel, mit seinen Kontrasten und Schattenfarben, die sich, beeinflusst durch äußere Faktoren wie Tageszeit und Lichtverhältnisse, ständig veränderten und nachts in Bewegung gerieten. Noch Tage nach seinem Abbau, ist ein Abdruck der Form geblieben, umspielt von Licht und Schatten.

* Skuggi, das isländische Wort für Schatten, es ist auch ein Vorname, der allerdings aus der Mode gekommen ist.