Eine Reise nach Syrien

Das gegen innere Widerstände mitgenom­mene Mobiltelefon habe ich – was gewiss kein Zufall ist – schon im ersten Hotel vergessen. Der Verlust hat nicht sehr ge­schmerzt, habe ich doch ein recht kritisches Verhältnis zu dieser „Errungenschaft“ der mo­der­nen Kommunikationstech­nik: Ich finde, so ein Handy rundet die „emotionalen Ecken“ ab, Abschied und Wiedersehen zum Beispiel werden gar nicht mehr richtig durchlebt, durch­litten und genossen, wenn die kommunikative Nabelschnur niemals unterbrochen ist.  Und wie kann man sagen: „Ich bin dann mal weg …“, wenn ständige Erreichbarkeit besteht?

Einen Fotoapparat habe ich von Anfang an gar nicht mitgenommen: Noch nie hatte ich auf einer derartigen Reise eine Kame­ra dabei, denn ich habe früh bemerkt, dass sie dazu ver­führt, die Welt ständig als Fotomotiv zu sehen und auf „Sehenswürdigkeiten“ zu reduzieren. Mir aber kam es darauf an, das frem­de Land in seiner ganzen Buntheit und Vielfalt  bewusst und ohne Ablenkung in mich aufzu­nehmen. (die besuchten „Sehenswürdigkeiten“  sind schließ­lich auf Postkar­ten erhältlich …) Nur so ist es möglich, an jedem Ort, den ich auf­ge­sucht habe, tatsächlich gewesen zu sein. Und das Erlebte mache ich nicht durch Fotos, son­dern durch Schreiben erinnerbar.

Wer allein eine Reise in ein fremdes Land unternimmt, tritt auch eine Reise zu sich selbst an. Unmittelbar und ungefiltert treffen Bilder, Geräusche, Gerüche und Gefühle auf die eigene Seele. Auf diese Weise spiegelt die fremde Umgebung  das Ich mit seinen moralischen und kulturellen Wertvorstellungen, bisherigen Erfahrungen, seinen (Vor-)urteilen, Vorlieben und Abneigungen und eröffnet so eine neue Sicht auf die eigene Existenz und auf die umgebende Welt: Die Begegnung mit einer frem­den Welt wird zur Selbstbegegnung. Liegt doch das Eigene meist im toten Winkel der Wahr­nehmung.

Der allein Reisende ist weitgehend Herr über Zeit und Raum – welch beglückendes Erlebnis, wo unser Leben heutzutage doch bis ins Detail strukturiert ist von Uhren, Fahrplänen, Am­peln, Fußgängerüberwegen, Vereinba­run­­gen, Verabredungen, Terminen … und nur der Rei­sende selbst bestimmt die Richtung, in die er sich bewegt, die Neugier weist ihm den Weg, er kann sich treiben lassen von Lust- und Unlust­gefühlen. Und es spielt keine Rolle, ob er müde gewor­den ist, oder über die Energie für weitere Stunden des Umherwan­derns ver­fügt – kann er doch rasten, wann immer und so lange er will!

Nach eineinhalb Stunden kündigt sich die türkisch-syrische Grenze durch kilometerlange Lastwa­genkolonnen an. Das Verhältnis der beiden Länder hat sich in letzter Zeit wesentlich verbes­sert, der Handel ist nun rege und dementsprechend geht es an der Grenze mit ihren Forma­litäten zu. Unser Fahrer wuselt listig rechts und links an den Kolonnen vorbei, schimpft, und wird beschimpft,  und schon stehen wir vor dem Abfertigungsgebäude an der Grenze. Alle müssen aussteigen, zur Passkontrolle. Unser Fahrer geht durch den Bus und sammelt alle türkischen Pässe ein. Ich sage: „Ich bin Deutscher, nicht Türke“. Er zwinkert mir zu: „Jetzt bist du auch mal Türke“, nimmt meinen Pass und verschwindet im Laufschritt in der Abferti­gungshalle. Ich, etwas besorgt, hinterher. Aber schon ist er in irgendwelchen Büros ver­schwun­den mit seinen türkischen Pässen. Während die anderen ausländischen Mitreisenden die Einreiseformulare ausfüllen, kann ich mich in Ruhe umschauen. Das Gebäude ist ziem­lich neu und sehr gepflegt, es herrscht eine ruhige Atmosphäre; natürlich blickt das Konterfei des – wie ich finde – „chaplinesk“ drein schauende Präsidenten, der von nun an allgegen­wärtig sein wird in diesem Land, gleich mehrfach von der Wand. Und dann fällt mein Blick auf ein großes Schild: „Verehrte Einreisende“, heißt es da, „sollte sich einer unserer Beam­ten nicht korrekt verhalten oder in irgendeiner Weise Anlass zu Beschwerde geben, so wen­den Sie sich bitte an den zuständigen Aufsichtsbeamten oder rufen Sie die Telefonnum­mer … an.“  Da fällt mir ein, was mir bei der Einreise am Flughafen in Baltimore (USA) vor einigen Jahren als erstes auffiel: Ein Schild, das in rüdem Ton darauf verwies, dass es ein strafbewehrtes Vergehen sei,  bei der Passkontrolle eine Diskussion zu führen („to argue with an immigration officer“). Welch ein Kontrast zwischen dem Land, das angeblich ein Hort der Finsternis sein soll einerseits, und dem gelobten Land der Freien und Gleichen andererseits  …

Allepo

Am Ende der Gasse eine nun lebhafte Straße. Hier kommen viele Taxis an und vor allem auch  große Touristenbusse. Ich setze mich auf eine Mauer an der Moschee und betrachte das Treiben. Gerade quellen etwa 40 Touristen aus Deutschland aus einem der Busse; kaum setzen sie den Fuß auf die Straße, reißen die meisten von ihnen die Kamera vors Auge und „schießen“ wie wild um sich. Manche fahren mit ihrem Camcorder einen  ra­schen 360-Grad-Schwenk um die eigene Achse. Die Reiseführerin weist auf drei renovierte Holz­häuser hin (wie ich sie bereits in großer Zahl auf meiner Wanderung heute früh gesehen habe), und schon richten sich alle Kameras auf diese drei Gebäude. Es scheint aber nie­mand richtig hin zu schauen, vielmehr gilt die ganze Aufmerksamkeit  der Entdeckung weite­rer Fotomotive. Ich stelle mir vor, dass viele der hier Anwesenden möglicher Weise erst auf dem Sofa daheim, wenn sie die Fotos betrachten, zum ersten Mal all das Schöne zur Kennt­nis nehmen, das sie hier vor Ort offenbar nicht richtig in sich aufnehmen (können).  Die Rei­se­führerin erzählt dann offenbar noch vieles mehr, aber es hören nur ein halbes Dutzend wirk­lich zu, die anderen haben sich abgewendet, fotografieren, gucken sich am Straßenrand angebotene Souvenirs an, trinken aus mitgebrachten Wasserflaschen und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Und reden viel. Ich frage mich, warum diese Leute überhaupt eine doch sicherlich nicht billige „Bildungsreise“ gebucht haben. Als ich der Gruppe nachschaue, wie sie sich nun, hinter dem Fähnlein der Reiseführerin versammelt, den Hügel zur Zitadelle hinauf schleppt (die Zufahrt von hier aus ist für Busse gesperrt), denke ich daran, wie gut ich’s doch habe … ich nämlich kann es mir erlauben, hier zu sitzen und zu staunen solange ich mag, um an die­sem ersten Tag erst einmal die Stadt als Ganzes mit allen Sinnen in mich auf zu nehmen; Zi­ta­delle und Moschee und all die anderen Sehenswürdigkeiten können warten, sie sind ja schon viele hundert Jahre und auch morgen noch da …

Es ist – nach vielen unguten Erfahrungen in anderen Ländern –  unglaublich, wie unbehelligt ich mich als Tourist in diesem Land bewegen kann: Keinerlei lästige oder aufdringliche „An­mache“, niemand zupft am Ärmel, niemand will einem irgendwelche „echt antike“ Schätze verhökern, einen Teppich verkaufen, die Schwester anbieten, illegal Geld wechseln oder ein­fach nur „guide“ sein! Welch ein Gegensatz zu Ländern wie Ägypten oder Marokko! Wende ich mich aber Auskunft suchend an einen Passanten, so überschlägt sich der vor lauter Hilfs­bereitschaft! Die Verständigung ist zwar in aller Regel schwierig, nur die Wenigsten können Englisch oder Französisch, im Lesen eines Lageplans sind die Syrer auch nicht gerade Welt­meister – aber sie sind herzlich und freundlich und immer sind sie bemüht, dem Fragenden eine Antwort zu geben (die sich bisweilen später als falsch heraus stellt, vermutlich, weil es in den Augen eines Syrers immer noch besser ist, eine unzutreffende Auskunft zu geben, als gar keine.) Als ich in einer überfüllten Bank Geld wechseln möchte und mich hilflos um­schaue, komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der einmal ein paar Jahre in Dortmund gearbeitet hat und noch recht gut deutsch spricht. Er nimmt sich viel Zeit für mich, lotst mich an langen Warteschlangen vorbei, redet mit dem Schalterbeamten, lässt sich nicht abwim­meln, und ich bekomme meine syrischen Pfund. Herzlich verabschiedet er sich von mir, wie von einem alten Freund. Abends, als ich am Sahat Hatab, dem kleinen Platz in der Nähe mei­nes Hotels einen „sun­downer“ genieße, kommt plötzlich dieser Mann aus der Bank vorbei, an der Hand seine zwei kleinen Töchter, etwa im Alter von 8-10 Jahren.  Eine von ihnen ist behindert. Der Mann zeigt sich ehrlich erfreut, mich wieder zu sehen. Ich bin es auch. Die beiden Mädchen geben wohlerzogen die Hand, wir wechseln ein paar Worte, dann muss er weiter, seine Frau wartet. Mit einer Umarmung verabschiedet sich der Mann, wie es üblich ist in diesem Land.  An die­se Begegnung muss ich oft denken: Wie schnell kann sich manchmal ein herzlicher Kontakt zwischen Menschen ergeben, die sich völlig fremd waren!  Und es fällt mir das Zitat aus dem „Kleinen Prinzen“ ein, „Man sieht nur gut mit dem Herzen“.

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Der nächste Tag ist ein Sonntag. Früh werde ich geweckt – nein, nicht vom Ruf des Muez­zin, sondern vom Glockengeläut der im 19. Jahrhundert gebauten katholischen Kirche hinter dem Hotel! Tja, in Syrien ist möglich, was im Deutschland von Herrn Sarazzin undenkbar ist. Man stelle sich nur einmal vor, einen Steinwurf von Münchens Marienplatz entfernt riefe am Morgen der Muezzin zum Gebet! Beschämt muss ich mir eingestehen, dass für den größten Teil meiner deutschen Mitbürger eine solche Vorstellung wohl unerträglich ist.

Es ist wohl die „Ganzheit“ menschlichen Lebens, das Neben- und Miteinander von Produktion, Handel, Wohnen, geselliger Zerstreuung, Erholung und religiöser Hingabe. Wohnung, Werkstadt, Geschäft, Teestube, Moschee und Hamam – alles ist in Reichweite, kaum getrennt. Ein Nebeneinander auch der Generationen: Greise, die an der Türschwelle sitzen und Horden spielender Kinder in den Gassen. All das, was wir der Mo­derne geopfert haben, suchen wir nun sehnsüchtig wieder zu finden in fernen Ländern. Wohnen wir doch in „Schlafstädten“, arbeiten in Industriezonen oder Bürohäusern, kaufen in Einkaufszentren, entspannen uns im Vergnügungsviertel, erholen uns im „Wellness-Centre“, besuchen unsere Alten im Altenheim und verbannen unsere Kinder auf Spielplätze, Kirchen brauchen wir schon lange nicht mehr … Alles ist getrennt, funktional, effizient, raum-,  geld-, zeitsparend organisiert. Das menschliche Dasein, es ist in Segmente zerfallen und es wird immer schwerer, die Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.

An diesem letzten Abend in Aleppo sitze ich noch einmal in der Nähe meines Hotels vor dem „Café Sissi“ am Sahat Hatab-Platz, der mich mit seinem Flair ein wenig an Montmartre oder auch Alt-Schwabing erinnert. Hier wird mir bewusst, dass Aleppo auch heute noch eine Schnitt­stelle ist zwischen Tradition und Moderne, zwischen Okzident und Orient, zwischen verschiedenen Kulturen. Fast so wie ich Beirut erlebt habe vor dem Krieg von 1975. Um mich herum sitzen ganz unterschiedliche Menschen: Das syrische Paar mittleren Alters, mit dem ich mich französisch unterhalten kann, er trinkt (in aller Öffentlichkeit!) ein Bier, sie tele­foniert mit ihrem Mobiltelefon. Dann sind da zwei junge Frauen, beide tragen Kopftuch – und rauchen, sich lebhaft unterhaltend, Wasserpfeife (auch das in aller Öffentlichkeit)!  Und dann ist da eine westlich gekleidete, offenbar gut betuchte Dame, die – einen Hund (!!!) an der Lei­ne – mit einem Begleiter am Nebentisch Platz nimmt. Das ist etwas Unerhörtes, denn für ei­nen Muslim ist der Hund, neben dem Schwein, ein unreines Tier, dessen Nähe der Mensch meidet. Der Hund und seine Herrin erregen denn auch große Aufmerksamkeit, die Buben, die in der Mitte des Platzes Fußball gespielt haben, unterbrechen ihr Spiel und stehen bald belustigt tuschelnd, und gleichzeitig ungläubig staunend in einiger Entfernung um den Tisch, an dem sich Hund und Mensch niedergelassen haben. Auch die Passanten, die vorbei kom­men, werfen verstohlene Blicke auf den Hund, der es sich unter dem Stuhl seiner Herrin ge­mütlich gemacht hat. Da fällt mir das Kapitel „Ich, der Hund“ in Orhan Pamuks Roman „Rot ist mein Name“ ein, das die Existenz der Gattung Hund aus der Sicht eines Hundes in Istan­bul mit umwerfender Komik beschrieben hat. Und es fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich seit meiner Abreise aus Deutschland vor 14 Tagen nicht einen einzigen Hund zu Gesicht be­kommen habe, bis heute Abend.

Wenn ich die drei Tage, die ich nun in Aleppo verbracht habe, Revue passieren lasse, so bin ich einiger Massen verwirrt. Was ich sah, entspricht so gar nicht dem Klischee vom „bösen Islam“, vom „Ort der Finsternis“, „der Achse des Bösen“, die Syrien doch sein soll – wenn man Psy­cho­pathen  wie Ronald Reagan, George W. Bush, Herrn Sarrazin, etc. glauben will. Nun könnte man mir entgegnen: Syrien und vor allem Aleppo ist ja nicht „typisch“! Aber warum soll immer nur „typisch“ sein, was dem Vorurteil entspricht? Könnte man nicht auch argumentieren, dass Aleppo „typisch“ ist für die kulturelle und religiöse Toleranz, die eben auch anzutreffen ist in den Ländern des Nahen Ostens?

Etwa vier Monate, nachdem ich aus dem mir so liebenswert erscheinenden Land zurückgekehrt war, kamen erschreckende Bilder aus Syrien: Bilder von Panzern und Soldaten in den Städten, Frauen und Kinder auf der Flucht, blutüberströmte Demonstranten und brennende Geschäfte … Wie mag es nun den vielen netten Menschen ergehen, die ich auf meiner Reise kennen gelernt hatte? Sind sie alle noch unversehrt?

Menningararfur

Der Bürgermeister der Gemeinde trat an das Rednerpult, begrüßte die Gäste der Konferenz, und bedankte sich dafür, dass so viele der Einladung gefolgt waren. War doch die Einladung allgemein an alle Mitglieder der Gemeinde gerichtet, und nicht nur an  vorher bestimmte Personen.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Nur die Sitzordnung war vorherbestimmt, denn jeder der großen runden Tische im Konferenzraum der Stadtverwaltung war vor Beginn der Konferenz mit einem Aufsteller versehen worden, der in englischer Sprache die Gäste darauf hinwies, welche Sprache an diesem Tisch gesprochen werde: „Philippinisch“, „Thailändisch“, „Polnisch“, „Englisch“, „Französisch“, „Deutsch“, „Isländisch“, etc. An jedem dieser Tische saß ein Muttersprachler, der – da bereits langjähriges Mitglied der Gemeinde – auch die Landessprache fließend beherrschte, damit ein jeder allen anderen gleichgestellt sei, und nicht durch Sprachbarrieren an der Teilnahme behindert.

Der Bürgermeister der Gemeinde stellte am Beginn seiner Rede zur Begrüßung der Teilnehmer seine Stadt vor. An Einwohnern zähle sie 2.560 Mitbürger, wobei zu erwähnen wäre, dass 30 % der Mitbürger nicht in diesem Land aufgewachsen seien, sondern in 29 anderen Nationen der Welt. Die Konferenz habe das Ziel, von diesen zu erfahren, mit welchen Schwierigkeiten und Hindernissen sie konfrontiert seien, und durch welche Maßnahmen die Gemeinde dem abhelfen könne. Aus diesem Grund werde jedem Teilnehmer eine umfangreiche Liste an Fragen vorgelegt, mit der Möglichkeit, dass ein jeder seine persönliche Antwort als Betroffener abgeben könne. Zu diesem Zweck sei jedem Teilnehmer ein Notizzettel-Block zur Verfügung gestellt worden, damit jeder seine Antwort in seiner Muttersprache darauf niederschreiben könne. An jedem Tisch sitze eine Person, die nicht nur dessen Muttersprache spreche, sondern auch die Landessprache. Diese Person werde die Antwort jedes Teilnehmers am Tisch zu jeder einzelnen Frage sammeln, und am Ende jede einzelne Antwort vortragen, so dass alle Teilnehmer alle Antworten erfahren. Da damit zu rechnen sei, dass die Konferenz deswegen mehrere Stunden in Anspruch nehmen werde, habe man für das leibliche Wohl vorgesorgt, und es sei ein Buffet vor dem Konferenzraum für alle Teilnehmer bereitgestellt.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Unweit des Konferenzraums, in dem Gebäude, in welchem die Universität der Gemeinde untergebracht, befindet sich eine weitere Lehranstalt, die mit der Bezeichnung „Schule für lebenslanges Lernen“ wohl am besten beschrieben. Im Rahmen deren Angebots werden didaktisch und methodisch durchdachte Sprachkurse in zweckdienlicher Form bereitgestellt, die aufeinander aufbauen, von professionellen Pädagogen durchgeführt, mit dem Ziel, die Schüler in die Lage zu versetzen, in der Landessprache kommunizieren zu können. Und so ist es keineswegs ungewöhnlich, in einem Klassenzimmer elf Schüler vorzufinden, die aus drei Kontinenten kommend, und sechs verschiedene Muttersprachen sprechend, von einem Mitschüler zum anderen gehen, mit diesem einen freien Dialog zu einer bestimmten Situation in der Landessprache führen, die Lehrerin bei den sich durchwechelnden Zweiergruppen dabei mithört, und bei Bedarf bei einem Schüler dessen praktizierte Aussprache, Wörter und Grammatik korrigiert.

Für die Schüler der Sprachkurse ist von Vorteil, dass in der Gemeinde auch das Büro der Gewerkschaft aufzufinden ist. Verhält es sich doch so, dass jeder Lohnempfänger des Landes per Gesetz automatisch Gewerkschaftsmitglied ist, daher die Unternehmen bei der Lohnabrechnung neben der Steuer auch den Gewerkschaftsbeitrag abführen, der auf 1 % des Bruttolohns festgesetzt. Was dazu führt, dass die Gewerkschaft dem Teilnehmer der Sprachkurse 75 % der Kursgebühren erstattet.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Es ist verständlich, dass ein Außenstehender, dem Kultur bis dahin noch fremd, sich mit der Frage konfrontiert sieht, was denn das Bewirkende sei, die zu solcherart Bewirktem führe. Dabei wäre die Antwort naheliegend, und vom isländischen Staatspräsident Guðni Th. Jóhannesson bereits mit einem einzigen Satz beantwortet: “Wir können die Regierung auswechseln, aber wir können nicht die Wähler auswechseln.”

Innenansicht und Außenmeinung

Die Trolle Bókstafareikningur und Reiknirit lagen Nächtens auf ihrem Stein südlich des Drangajökull und träumen bei rotem, grünem und gelbem Tanz der Elfen.

Reiknirit: „Ein konkretes Individuum verlor sein Meditationszentrum. Dessen Meditationszentrum war ein Fabrikschlot vor dem Fenster. Es hatte sich vor dem Fenster eine Schar von Buddhisten in der Fabrik niedergelassen, Männer waren auf das Dach geklettert, und hatten dem Schornstein hölzerne Reifen umgelegt, stiegen auf diesen hinauf und warfen den Schornstein Stück um Stück in dessen Schlund. Dann feierten die Buddhisten das Richtfest ihres Meditationszentrums. Der Schornstein fehle nun dem konkreten Individuum in jenen Stunden, in welchen das Selbstvertrauen schwindet, wenn die Zweifel kommen, und die Stimmung so trüb ist wie die schmutzigblaue Abdeckplane auf dem Dach der Fabrik.“

(be)

Bókstafareikningur: „Zentren sind immer nur Zentren relativ zu Irgendetwas. Wenn ich zum Beispiel den Ausdruck im Uhrzeigersinn gebrauche, beziehe ich mich auf ein Zentrum, und ich verstehe selbstverständlich darunter jenes, was vom Standpunkt der Uhr aus gesehen deren Sinn beschreibt, und nicht den Standort jener, welche auf die Uhr blicken. Denn gesetzt den Fall, die Uhr nehme sich selbst wahr, während sie auf die Menschen blicke, sieht diese ihre Zeiger gegen den …“

Reiknirit: „ … was nur feststellbar, stellte einer sich vor, er sei diese Uhr. Was aber hat das mit dem zu tun, was ich mir erfahren hatte, und dir gerade zu erzählen begann?“

Bókstafareikningur: „Da damit bereits das Feststellbare über Innenansicht und Außenmeinung hinreichend beschrieben. Ich erinnere dich an den Satz: Fehlen Dir die Füße zum Reisen, so reise nach innen.“

Reiknirit: „Verstehe. Gesetzt den Fall, es wäre möglich, nach innen zu reisen, und nach außen zu reisen, …“

Bókstafareikningur: „… so könne dies sich nur so verhalten, als würde der Reisende dabei in einem gewöhnlichen Spiegel leben, damit er sehe, was sich da zeige, so er der spiegelnden Seite zugewandt.“

Reiknirit: „Was Sinn mache, denn blickte er auf dessen Rückseite, so sähe er ja nichts, da diese blind. Richte nun einer – auf solche Art und Weise reisend – den Blick nach innen in sich selbst, so sähe er sich selbst. Was aber nach sich zöge, dass er außen nichts mehr wahrnehmen könne, da zugleich die blinde Seite des Spiegels in Richtung nach außen gerichtet, welche ja außerstande, etwas wahrnehmen zu können.“

Bókstafareikningur: „Nehme er nun bei dem Blick nach innen etwa außen etwas wahr, wozu auch ein Gedanke bzw. eine bildhafte Vorstellung zählte, …“

Reiknirit: „… erzählte dieses Ereignis demnach, dass er tatsächlich den Spiegel gewendet habe, und damit logischerweise gar nicht mehr nach innen sähe. Nehmen wir nun an, es gelänge ihm, den Spiegel nach innen gerichtet zu halten, was sähe dann ein Außenstehender?“

Bókstafareikningur: „Aller Logik nach nur die blinde Seite des Spiegels, also – nichts. Nehmen wir nun noch an, der Reisende würde den Spiegel wenden, also nach außen richten. Verhält es sich dann nicht so, dass der Reisende sähe, was sich ihm dort darböte, so er zu Aufmerksamkeit fähig?“

Reiknirit: „Dann sähe er aber innen nichts mehr, da in Folge nun die blinde Seite des Spiegels in Richtung nach innen gerichtet, welche ja nichts wahrnehmen könne.“

Bókstafareikningur: „Was sähe aber in diesem Falle dann der Außenstehende, der in die nun dargebotene spiegelnde Seite blicke?“

Reiknirit: „Wer bereits einmal in einen Spiegel gesehen hat, kann diese Frage beantworten. Nur die Wesen glauben, sie seien mit einem Januskopf ausgestattet worden. Was sie zwar abstreiten, aber so agieren, als besäßen sie einen.“

Bókstafareikningur: „Womit auch die Uhr, und jener, der auf diese blicke, hinreichend beschrieben. Und weil dem so ist, ist eine Feststellung nachvollziehbar, dass sich Innenansicht und Außenmeinung keineswegs deckten.“

Reiknirit: „Bliebe noch der Frage nachzugehen, ob jene Innenansicht, welche über solcherart Spiegelei wahrnehmbar, mit jener Innenansicht sich decken könne oder sogar müsse, welche aus Nachdenken, also dem sogenannten Rationalisieren resultiere, welches nicht mit rationalem Begreifen identisch.“

Bókstafareikningur: „Was eine interessante Frage schon allein aus dem Grund, da auf Grundlage der Annahme, die gewonnene Innenansicht des Inhabers, und die gewonnene Ansicht eines Außenstehenden über den Inhalt des Inhabers könnten deckungsgleich sein, sich nicht nur ein neuer Berufsstand entwickelte, sondern gleich eine neue Wissenschaft: die Psychologie.“

Reiknirit: „Und so verlässt seitdem der hiervon Infizierte gelangweilt die Theatervorstellung vor der Zeit, sich der Frage widmend, ob die Tatsache, dass er im Gegensatz zu dem restlichen Publikum sich von der dargebotenen Aufführung gelangweilt fühle, nur aus dem Grund hervorgegangen sein könne, weil da noch ein unentdecktes Problem in ihm wäre, was sich ihm darüber kund tue …“

Bókstafareikningur: „… vielleicht ein verdeckt schlummernder Konflikt mit der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, unerfüllte inzestuöse Wünsche, oder was auch immer. Und der nun endlich nach langer Zeit danach dränge, durch einen Psychologen ans Tageslicht gebracht zu werden.“

Reiknirit: „Dies erklärte, dass in den Vereinigten Staaten – so ist zu hören – gebildete Menschen neben einem Eigenheim, einem Auto, einer Mikrowelle, und einem Eisschrank auch einen Psychologen als notwendiges Accessoire für ein vollständiges Portefeuille erkannt haben.“

Bókstafareikningur: „Ergibt sich doch darüber neben dem Geltungsnutzen auch ein Grundnutzen, in Form von kurzweiligem Gesprächsstoff in angenehmer Runde unter Gleichgesinnten. Nach dem Besuch des Sofas.“

Reiknirit: „Und für den Fall, der Psychologe sollte etwas von dem Gegenstand begriffen haben, mit dem er umgeht, gibt es auch eine Lösung: man wechselt ihn aus.“

Bókstafareikningur: „Was zu dem Satz führe: Die Person? Wie soll ich sie beschreiben. Ich beschriebe sie in der Form eines Fragezeichens, mit der Gewissheit, dass vor diesem ein Satz stehe, und dem Wissen, dass dieser Satz von Niemandem gelesen werden könne, außer von derjenigen Person selbst.“

Reiknirit: „Aber deine Erklärung hat einen Haken. Denn diese ist nur eine aristotelische Spiegelei, die schon längst widerlegt ist“.

Bókstafareikningur: „So, meinst du? Hast du schon einmal einen Versuch unternommen, deine Gehirnströme auf 0,4 Hz herunterzufahren?“

Reiknirit: „Wozu sollte das gut sein?“

Bókstafareikningur: „Damit du den Satz verstehen kannst: Welcher Sehnsucht folgst du, die Wüste zu durchwandern? Wie oft bist du zu heiligen Stätten gepilgert, bist dem Rufe der Gurus gefolgt oder hast magische Steine an deiner Haut gerieben? Doch wann bist du jemals in deinen eigenen Tempel eingetreten?

Reiknirit: „Und wozu sollte das nun wieder gut sein?“

Bókstafareikningur: „Weil sich nur dort vielleicht ein Meditationszentrum auffinden ließe? Und damit du endlich Einsteins Relativitätstheorie verstehst, und diese nicht weiterhin nur ohne Sinn und Verstand auswendig herunterbetest?“

Reiknirit: „Aber was bitteschön wäre da nun relativ?“

Bókstafareikningur: „Nun, es könnte gut sein, dass du dabei aus Versehen in den Mikrokosmos eintauchst, aber im Makrokosmos landest, und den Weg zurück nicht mehr findest.“

Reiknirit: „Blühender Blödsinn.“

Bókstafareikningur: „So, meinst du? Wie verhält sich denn der Durchmesser eines Atoms zu seiner Atomhülle?“

Reiknirit: „Das Verhältnis des Durchmessers eines Atomkerns zu dem Durchmesser seiner Atomhülle, in der sich die Elektronen bewegen, welche die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Atoms bestimmen, bewegt sich im Verhältnis von ca. 1 : 10.000 bis 1 : 100.000.“

Bókstafareikningur: „Und besäße der Atomkern den Durchmesser der Sonne, kreiste dessen äußerstes Elektron ca. 13.927.000.000 km entfernt davon. Gemessen daran klebt die Erde mit ihren 149.500.000 km geradezu an der Sonne. Betrachte einer das Verhältnis der vorkommenden Massen in einer Atomhülle mit dem eines Sonnensystems, so ließe sich feststellen, dass sich im Atomkern mehr als 99,9 % der Masse und Energie des gesamten Atoms konzentrierten, was mit dem Verhältnis der Massen in unserem Sonnensystem in etwa konform wäre, in welchem die Masse der Sonne 700fach größer sei als die Masse all ihrer Planeten.“

Reiknirit: „Nehmen wir beide also einmal an, jemand wäre in der Lage, seine Gehirnströme auf 0,4 Hz herunterzufahren, und reise dabei versehentlich in seinen eigenen Mikrokosmos, und es gelänge ihm, sich dort über einen gewissen Zeitraum aufzuhalten, er demnach nicht in der Lage wäre, sich jenseits dieses Mikrokosmos auf der Ebene der dort vorhandenen Wahrnehmungsfähigkeit zu bedienen, um deren Zweck zu erfüllen, …“

Bókstafareikningur: „… würde dies gemäß der Naturgesetze zufolge unweigerlich dazu führen, dass dessen neuronale Vorgänge ihre Funktionsfähigkeit verlören, da ihnen dadurch jegliche Voraussetzung hierfür hinreichend genug entzogen, welche diese zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionstüchtigkeit benötigten.“

Reiknirit: „Während dem im Mikrokosmos Schwebenden …“

Bókstafareikningur: „… die fernen Atome des eigenen Körpers erschienen wie ferne Planeten, und er sich die bange Frage stellte, wie es denn nun anzustellen sei, …“

Reiknirit: „… dass er endlich diesen taumelnden Zustand in diesem leeren Weltall auch wieder verlassen könne, um endlich wieder auf seinem Sofa zu landen …“

Bókstafareikningur: „… er auf solchem Weg folglich von einem Bezugssystem zu jenem Bezugssystem zurückkehre, von welchem er seine Reise unternommen.“

Reiknirit: „Wird nicht mit dem Begriff Wirklichkeit all das beschrieben, was der Fall ist?“

Bókstafareikningur: „So ist zu hören. Und als Gegenbegriffe zur Wirklichkeit werden Schein und Phantasie gehandelt.“

Reiknirit: „Nach Needham stellt sich in der Objektwahrnehmung bei Säuglingen die Unterscheidung von Objekten auf der Grundlage von Formunterschieden erst nach ca. 4 ½ Monaten ein, die Nutzung von Farbunterschieden sogar erst nach 5 bis 9 Monaten. Die Bildung und Selektion der Synapsen erfolgt ebenfalls erst postnatal, ungefähr ab dem achten Tag nach der Geburt, um nach ca. 30 Tagen mit ca. 13.000 Synapsen pro Neuron den Kulminationspunkt zu erreichen. Erst nachdem nach 30 Tagen der Kulminationspunkt bei der Bildung von Synapsen erreicht wurde, beginnt die lange Fixation von Objekten.“

(be)

Bókstafareikningur: „Und diese Fixation von Objekten führt zu jenem Bezugs– oder Referenzpunkt, ohne dem eine Tomate …“

Reiknirit: „.. sich vielleicht nur als ein Universum darböte, aus Atomen und Atomhüllen, was alles andere als geeignet wäre, …“

Bókstafareikningur: „… um erkennen zu können, dass einer in diese auch hineinbeißen könne, um seinen Hunger zu stillen.“

Reiknirit: „“Womit vorstellendes Begreifen ausreichend beschrieben.”

Bókstafareikningur: “Wie auch das rationale Begreifen. Rökfræði führt zu Samræmi.“ 1)

Die Trolle Bókstafareikningur und Reiknirit kletterten von ihrem Stein südlich des Drangajökull, und tanzten ausgelassen einen Reigen um ihren Stein, da er sich ihnen als Stein darbot, was nur Schein und Phantasie, und nicht als eine riesige Ansammlung von Atomen und Atomhüllen, also dessen Wirklichkeit, die ja Gegenbegriff zu Schein und Phantasie:

„Lítilla sanda
lítilla sæva
lítil eru geð guma.
Því að allir menn
urðu-t jafnspakir:
Hálf er öld hvar.“
2)

 

1) Samræmi (isl.) = Harmonie, Korrespondenz (isl.) = Widerspruchsfreiheit / Konsistenz (dt., gr.)
Rökfræði (isl.) = Argument und Studie (isl.) = Logik (dt., gr.)

2) Aus „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986, Übersetzung:

 (53) „Unbedeutende Buchten
kleine Meere
bedeutungslos der Dichter Sinn.
Da alle Menschen
nicht gleich weise waren,
ist Dasein unvollständig überall.“

„Ohne die grundlegenden Dinge“

Bevor unsere weißen Brüder kamen, um zivilisierte Menschen aus uns zu machen, hatten wir keine Gefängnisse.

Aus diesem Grund hatten wir auch keine Verbrecher.

Ohne ein Gefängnis kann es keine Verbrecher geben.

Wir hatten weder Schlösser noch Schlüssel, und deshalb gab es bei uns keine Diebe.

Wenn jemand so arm war, daß er kein Pferd besaß, kein Zelt oder keine Decke, so bekam er all dies geschenkt.

Wir waren viel zu unzivilisiert, um großen Wert auf persönlichen Besitz zu legen.

Wir strebten Besitz nur an, um ihn weitergeben zu können.

Wir kannten kein Geld, und daher wurde der Wert eines Menschen nicht nach seinem Reichtum gemessen.

Wir hatten keine schriftlich niedergelegten Gesetze, keine Rechtsanwälte und keine Politiker, daher konnten wir einander nicht betrügen.

Es stand wirklich schlecht um uns, bevor die Weißen kamen, und ich kann es mir nicht erklären, wie wir ohne die grundlegenden Dinge auskommen konnten, die – wie man sagt – für eine zivilisierte Gesellschaft so notwendig sind.“

Lame Deer, Tahca Ushte, Lakota

Die Saga vom Tiere-Fjord

I. Königin Hortense nimmt Kurs auf Reykjavík

Da staunten die Reykjavíker nicht schlecht: La Reine Hortense und Le Cocyte tauchten am Horizont auf und gingen in der Bucht vor Anker. Isländer der Jetztzeit denken sofort an Kreuzfahrtschiffe, zu groß um im Hafen anlegen zu können, schwimmende Hochhäuser mit tausenden von Kreuzfahrern, die nach der Ausbootung Reykjavík, aber auch kleinere Hafenstädte wie Akureyri oder Ísafjörður heimsuchen.

Kreuzer vor Island: 1856 (La Reine Hortense) und 2016 (Azura) Bild: Bernhild Vögel

Doch in der Zeit, in der diese Saga handelt, gab es noch keinen Hafen in Reykjavík. Das Städtchen zählte kaum 1.500 Einwohner und sein einziges aus Stein erbautes Gebäude war die Domkirkja.

Vor 161 Jahren, Anfang Juli des Jahres 1856, liefen nacheinander zwei große Segler, randvoll beladen mit Kohle und Proviant, in den Faxafloi ein. Ihnen folgten zwei imposante Dampfschiffe, bei denen es sich trotz der blumigen Namen La Reine Hortense und Le Cocyte um französische Kriegsschiffe handelte. Sie wurden von der bereits zuvor angekommenen l’Arthémise mit 21 Kanonenschüssen begrüßt, die am Hausberg Esja widerhallten und bei einem älteren Einwohner Reykjavíks einen Hörsturz verursachten.

Doch was sich irgendwie auf den Beinen halten konnte, hatte sich in Schale geworfen, stand am Ufer und jubelte den ankommenden Fremden zu. Diese blickten mit wachsender Ernüchterung auf das, was die Hauptstadt Islands darstellen sollte. Neben dem Anwesen des dänischen Gouverneurs gab es nur eine Handvoll ansehnlicher Gebäude, ansonsten war die Stadt eine Ansammlung ärmlicher Fischerhütten, baumlos und ohne Gärten. „C’est triste, morne, désolé!

Reykjavík 1856 (aus: Chojecki, Voyage dans les mers du nord) und 2014

Das notierte Edmund Chojecki, ein in Frankreich lebender polnischer Journalist und Schriftsteller. Er hatte für sozialistische Zeitungen geschrieben, war aus Frankreich ausgewiesen worden, hatte am Krimkrieg teilgenommen, war aber nun Sekretär des Expeditionsleiters an Bord der Korvette La Reine Hortense und verfasste wissenschaftliche Notizen über die Expedition, die ein Jahr später unter dem Pseudonym Charles Edmond veröffentlicht wurden.

Ein Boot näherte sich der Korvette, und an Bord kletterten die städtischen Honoratioren, ‒ Gouverneur, Bürgermeister und Geistlicher ‒ um dem Expeditionsleiter ihre Aufwartung zu machen. Denn dieser war keine Geringerer als Prinz Napoléon, der Sohn von Jérôme Bonaparte, dem ehemaligen König von Westphalen. Der amtierende Kaiser Napoleon III. hatte seinen Cousin auf Eismeerexpedition geschickt, oder besser gesagt: abgeschoben, denn im gerade zu Ende gegangenen Krimkrieg hatte sich Prinz „Plon-Plon‟ nicht gerade als Vorbild für die Truppe erwiesen.

Doch das war den Reykjavíkern egal: Sie fühlten sich durch den Besuch hoch geehrt, zumal der Prinz sich alsbald an Land setzen ließ, um das offizielle Besichtigungsprogramm ‒ Dómkirkja, Kirchgarten, Lateinschule, Druckerei, Bankettsaal, Apotheke und gar ein Handelshaus ‒ zu absolvieren. Anschließend zog er sich mit Gouverneur Trampe zu nicht öffentlichen Gesprächen an den Elliðavatn zurück. Abends schmiss Trampe im Garten seiner Residenz ein Bankett vom Allerfeinsten. Die Sprache, in der sich die gebildeten Bürger Reykjavíks (und deren gab es  trotz der schlichten Behausungen doch verhältnismäßig viele) fließend mit ihren weltgewandten Gästen unterhalten konnten, war ‒ Latein.

Die Passagiere werden ersucht, nicht in die Fenster zu glotzen. Illustration von Pétur Guðmundsson (Quelle: www.bb.is)

Unermüdlich trieb der Sekretär des Prinzen unterdessen Studien über Land und Leute, glotzte in jedes Fenster wie heutzutage die Kreuzfahrer, ja, scheute sich nicht, die elendste Fischerhütte zu betreten, um sie wortreich beschreiben zu können. Damals gab es noch keine Benimm-Broschüren für Schiffsreisende, in denen sie in charmanten Comics darauf hingewiesen werden, die Intimsphäre der Eingeborenen zu achten. Im 19. Jahrhundert herrschte noch eine ungezwungene Zoo-Atmosphäre sowohl bei den Studienreisenden wie bei ihren Studienobjekten.

Und nahtlos geht es jetzt unter dem Stichwort Dýrafjörður ‒ Fjord der Tiere ‒ weiter, denn der Besuch des Prinzen beim trägen Geysir wird elegant mit Link übersprungen.

II. Abstecher in den Dýrafjörður

Sie werden sich sicherlich schon gefragt haben, liebe Leser, was denn die wahren Gründe waren, die den Prinzen nach Island getrieben hatten, denn Sie wissen, dass solche Staatsbesuche immer ein handfestes Ziel verfolgten ‒ Handel, Einflusssphären, Heiratsprojekte ‒ und verfolgen.

Der Prinz nahm Abschied von den begeisterten Reykjavíkern mit einer vielzitierten Rede: Er sagte, die Dänen seien immer Freude Frankreichs gewesen … und die Franzosen erinnerten sich noch, wie die Dänen sich bemüht hätten, 1813 loyal zu sein.‟

Die Dänen hatten ihre strikte Neutralität wegen der zweifachen Angriffe der Briten auf Kopenhagen nicht durchhalten können, und sich auf die Seite Napoleons geschlagen, was ihnen 1813 den Staatsbankrott und ein Jahr später den Verlust Norwegens einbrachte. Nun aber, im Zuge des Krimkrieges hatten sich Frankreich und Großbritannien wieder zusammengetan, was die Dänen sicherlich mit einiger Besorgnis erfüllte. Was lag näher, als etwas Schönwetter in den dänischen Kolonien zu machen?

Nicht ohne den Isländern zu versichern, er wünsche ihnen bestes Wohlergehen, dampfte der Prinz weiter zu den nächsten Forschungsobjekten, der unbewohnten Insel Jan Mayen und Grönland. Doch plötzlich drehte die La Reine Hortense ab, nahm Kurs auf die isländischen Westfjorde und ankerte im abgelegenen Dýrafjörður. Begehrliche Blicke richteten sich dort auf das Haukadalur (nicht zu verwechseln mit jenem Haukadalur, das den Geysir und andere Springquellen beherbergt). Nein, an diesem Haukadal im Dýrafjörður hatte schon der Norweger und spätere Saga-Held Gísli Sursson Gefallen gefunden und sich dort niedergelassen. Selbstverständlich beabsichtigte Prinz Napoléon nicht, von Frankreich nach Island zu emigrieren, jedoch hatte auch er ein Siedlungsprojekt in der Tasche. Und manchem Isländer ging angesichts dieses Überraschungsbesuches ein Lichtlein auf.

Die Dänen hatten den Isländern 1787 Handelsfreiheit gewährt, allerdings standen dem kleinen, von Hunger und Umweltkatastrophen geplagten Völkchen nicht viele Mittel zur Verfügung, diese Freiheit zu nutzen. In offenen Booten gingen sie dem Fischfang in den Fjorden und im Küstenbereich nach, während ausländische Fischfangflotten etwas weiter draußen die dicksten Fische an Bord zogen ‒ eine Situation also, wie sie in vielen Regionen dieser Erde weiterhin Praxis ist. Einfahrt in die Fjorde und Landung war den ausländischen Schiffen nur in Notfällen erlaubt, allerdings fehlten Mittel und Personal, dies zu kontrollieren, und sowohl Dänemark wie die wenigen dänischen Verwaltungsbeamten in Island hatten wenig Interesse, hier einzugreifen.

Frankreich schickte Fischer aus der bettelarmen Bretagne ins Eismeer; sie kamen meist auf kleinen Zweimastschonern. Ab und an kam ein Schiff der französischen Marine vorbei:

Der Kreuzer hatte jetzt gestoppt und war aus weitem Umkreis von der Plejade der Isländer umgeben. Von jedem ihrer Schiffe ward eine Nußschale von Boot herabgelassen, die langbärtige Männer in ziemlich wildem Aufzug an Bord brachten. Fast wie Kinder hatten sie alle um etwas zu bitten: um Verbandzeug für kleine Wunden, Flickzeug, Nahrungsmittel, Briefe.(aus Pierre Loti: Die Islandfischer, verfasst 1886)

Als Isländer bezeichnen sich in der Erzählung des Marineoffiziers und Schriftsteller Pierre Loti die bretonischen Fischer selbst. Und in der Tat war ihre Situation kaum besser. Sie waren der offenen See schutzlos ausgeliefert, während die isländischen Fischer in ihren Nussschalen bei Sturm nur allzu oft kenterten, bevor sie den Heimathafen erreichten.

Die bretonischen Fischer müssen große Augen gemacht haben,als sie La Reine Hortense in den Dýrafjörður einlaufen sahen. Prinz Napoléons ging in der kleinen Handelsniederlassung Þingeyri an Land. Der Prinz trat auch hier sehr liebenswürdig auf, verteilte verschiedene Geschenke und stach dann in See‟, berichteten die Zeitungen.

Nun war auch dem letzten Isländer klar, was der Prinz bezweckte, denn bereits im Jahre zuvor hatte der Kapitän des Kreuzers La Bayonnaise, der die französischen Fischerboote beaufsichtigte, das Alþingi, das isländische Parlament, im Auftrag verschiedener Kaufleute aus Dunkerque um Erlaubnis ersucht, eine Art Kolonie im Dýrafjörður zu errichten, um die Fänge gleich vor Ort verarbeiten zu können. Schuppen, Trockenplätze für den Kabeljau und Unterkünfte für die Arbeiter sollten dafür errichtet werden. Anfänglich war von 400-500 Männern die Rede, dann aber von einer vergrößerten Fischfangflotte (800-900 Schiffe mit 10.000 Mann Besatzung) und 1000 Arbeitern an Land es war der Plan, so empfanden es viele Isländer, den Dýrafjörður zur französischen Kolonie zu machen.

Und ein wenig erinnert der großzügige Auftritt des Prinzen an das Vorgehen gewisser Multikonzerne, die kommunalen Behörden ihre nicht gerade umweltfreundlichen Produktionsstätten für Aluminium, Silizium & Co. schmackhaft machten. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Isländer noch auf der Hut. Sie hatten zwar erreicht, dass ihr Alþingi wieder tagen konnte, doch ihre Unabhängigkeitsbestrebungen waren erst einmal gescheitert und Island blieb weiterhin dänische Kolonie. Und jetzt wollte Frankreich auch noch ein Stück des Landes kolonisieren das war zu viel. Bewohner und regionale Behörden im Bezirk Ísafjörður lehnten das Projekt in Bausch und Bogen ab, und in Þingeyri stellte man eine beachtliche Liste von Bedingungen auf, die u.a. Zölle, Gebühren für die Verarbeitung, Landnutzung und Rechtsstellung der französischen Arbeiter betrafen, auf die die Franzosen aber wohl niemals eingegangen wären. (Der Handelsplatz Þingeyri zahlte nach dem Zensus von 1855 gerade mal 14 Einwohner, von denen die Hälfte Kinder waren, während im Haukadalur auf drei Höfen immerhin 47 Menschen lebten.)

Während die Behörden in Dänemark keineswegs abgeneigt waren, den Franzosen die Lizenz zu erteilen, sammelte ein Ausschuss des Alþingi in jahrelanger Arbeit weitere Argumente, die gegen das Kolonialprojekt sprachen: Die Isländer würden gerade die ersten gedeckten Boote für den Kabeljau- und den Haifang einsetzen, konkurrenzfähig seien sie aber noch lange nicht. Auch befände sich das vorgesehene Land bei Þingeyri im Kirchenbesitz und es sei gänzlich ungewiss, auf welche Weise das Land verpachtet oder verkauft werden könne. So erfolgte schließlich der Ablehnungsbeschluss durch das Alþingi, den der dänische König zu Beginn der Fangsaison 1859 mit Brief und Siegel bestätigte.

Blick ins Haukadalur (Bild: Bernhild Vögel)

Die französischen Fischer aber kamen bis ins frühe 20 Jahrhundert in die fischreichen Gewässer vor den isländischen Westfjorden. Nicht wenige Schoner kenterten, nicht wenige Männer verloren bei der harten und gefahrvollen Arbeit ihr Leben. Gegen eine Art Hafengebühr konnten die französischen Fischer schließlich doch in der Bucht Haukadalsbót ankern und mit den Einheimischen Waren tauschen ‒ sogar eine Mischsprache, das Haukadalsfranska, entstand. Die Toten durften an Land bestattet werden ‒ ein kleiner, sorgfältig restaurierter Friedhof am Rande des Haukadalurs zeugt noch heute davon. Ein Friedhof, wie ihn Pierre Loti beschrieb:

In einem Fjord an der Küste gibt’s aber auch einen kleinen Gottesacker, fuhr er fort. Dort begraben wir die Leute, die während des Fischfangs an Bord sterben. Es ist geweihte Erde, so gut wie hier bei uns, und man setzt den Toten ein Holzkreuz mit dem Namen auf ihr Grab. …

Der Friedhof der französischen Fischer im Haukadalur (Bild: Bernhild Vögel)

Die Holzkreuze verwitterten, Namen und Zahlen der Toten haben sich verloren.

Aux sombres héros de l’amer
Qui ont su traverser les océans du vide,
A la mémoire de nos frères
Dont les sanglots si longs faisaient couler l’acide

|: Always lost in the sea

Tout part toujours dans les flots
Au fond des nuits sereines
Ne vois-tu rien venir ?
Les naufragés et leurs peines
Qui jetaient l’encre ici
Et arrêtaient d’écrire …

|: Always lost in the sea

Ami, qu’on crève d’une absence
Ou qu’on crève un abcès
C’est le poison qui coule.
Certains nageaient
Sous les lignes de flottaison intime
A l’intérieur des foules.

|: Always lost in the sea

 

Aux sombres héros de l’amer, Komposition von Noir Désir, einer französischen Rockband, 1989.

Des Gnoms Genom

Tilvera: „Sie setzen nun entdecken dem erfinden gleich, und argumentieren, dass kein Unterschied bestehe zwischen den beiden Tätigkeiten, denn es sei der Verstand, der entdecke, und da dieser  es ist, der finde, sei es erfunden, und keineswegs entdeckt. Dein Genom wurde daher keineswegs entdeckt, sondern erfunden.“

Ónytjungur: „Ich besitze keinen Gnom. Es war daher bei mir auch keiner zu entdecken, und wäre da, weil bei mir hier nichts zu finden war, deswegen erfunden worden, dass ich einen Gnom besitze, so wurde dies meiner Erinnerung nach vor nicht langer Zeit noch Lüge genannt. Und diese meine Aussage ist wahr,  sowohl für jenen Fall, dass du mit dem Wort Gnom einen Erdbewohner meintest, als auch für jenen Fall, dass du mit dem Wort vom Verstand sprachst.“

Tilvera: „Ich sagte Genom, und nicht Gnom. Du spottest über Kleinwüchsige?“

Ónytjungur: „Wo denkst Du hin. Du weißt, das unsichtbare Volk ist unser treuester Freund, und wir Tröll deren treueste Freunde. Und da das unsichtbare Volk, wie der Name bereits darauf hinweist, unsichtbar ist, kann kein Tröll wissen, ob diese Bewohner im Untergrund nun Riesen, Zwerge, oder keines von beiden sind.  Demnach ist für uns Tröll eine bestimmte Körpergröße völlig nichtssagend, denn wäre es anders, wie könnten wir dann deren treueste Freunde sein.“

Tilvera: „Dennoch sagte ich Genom, und nicht Gnom.“

Ónytjungur: „Würdest Du mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass im Falle, mit dem Wort Gnom würden Erdbewohner bezeichnet, dann mit dem Wort eine angemessene Vorstellung über das Bezeichnete verbunden werden könne, hingegen  im Falle, es würde mit dem Wort Verstand bezeichnet,  keine angemessene Vorstellung über das Bezeichnete verbunden werden könne?

Tilvera: „In beiden Fällen wäre das darüber Bezeichnete einer Vorstellung zugänglich. Es ist aber immer noch so, dass ich vom Genom sprach, und nicht vom Gnom.“

Ónytjungur: „Gemach. Wie du weißt, gibt es keine Messgröße, die das Ausmaß an Verstand messe, also jener Fähigkeit, über welche mittels Begriffen sich etwas vorgestellt werde. Eine Messgröße  gibt es selbst dann nicht, setzte einer eine solche. Zudem, bildete einer Begriffe, und verknüpfte er diese dann mit Urteilen,  so wäre einer – wolle er in Folge darüber aussagen – dazu gezwungen, dieses  über Vergleiche mitzuteilen, da über Sprache nur Aussagen von Vergleichen möglich. Doch was wäre dann beschrieben über dieses Etwas, wenn erzählt, es sei größer oder kleiner als, dicker oder dünner als, älter oder jünger als, und was da an Vergleichen noch so möglich?  Das Ding selbst? Oder nur das Ergebnis eines Vergleichs, bezogen auf irgendeine Messgröße?“

Tilvera: „Nun, ebenso verhält es sich mit jenem, was mit dem Wort Akzeptanz bezeichnet. Auch über diese gibt keine Messgröße, die ein Ausmaß an Akzeptanz messe. Selbst dann nicht, setzte einer eine solche. Denn diese wäre immer willkürlicher Natur. Und so wäre von Akzeptanz nur zu sagen, dass es zwar einen oberen und unteren Schwellwert hinsichtlich vorhandener oder nicht vorhandener Akzeptanz gebe, jenseits derer entweder – in der einen Richtung – die Urteilsfähigkeit sich in ein  kollektives Delirium begebe, oder-  in der entgegengesetzten Richtung – ein konkretes Individuum sich  von jeglichem weiteren Versuch einer Kontaktaufnahme verabschiede, nicht jedoch, ab wann denn diese Schwellwerte nach oben oder nach unten genau über- oder unterschritten seien.“

Ónytjungur: „Wie kannst du dann behaupten, in beiden Fällen wäre das darüber Bezeichnete einer Vorstellung zugänglich, also sowohl bei den Ding Erdbewohner, wie bei dem Nichtding Verstand?“

Tilvera: „Nun, weil die Resultate aus der Bildung von Begriffen, und der damit verknüpften Urteile für jedermann wahrnehmbar, so er über Sinne verfüge.“

Ónytjungur: „Zugegeben. Und das auch noch unübersehbar. Jahrhunderte sitze ich nun bereits auf meinem Stein, bin durch Länder gereist, habe mir erfahren, was an Dingen jenseits des Horizonts, und bin dort auf jenes gestoßen, was Intelligenz genannt.“

Tilvera: „Nun, dann verfügst du bereits über Wahrnehmung, was Voraussetzung von Intelligenz. Wie du sicherlich weißt, ist Wahrnehmung selbst nur dumm.“

Ónytjungur: „Nun, ich bin ein Tröll. Ziehe demnach Betrachtungen über Wahrgenommenes allemal einer möglichen Intelligenz vor, und bleibe daher lieber dumm. Stahl doch die Intelligenz zuerst das Land, das ausnahmslos für alle bestimmt, wissend, dass sie damit Artgenossen die Ernährungsgrundlage entziehe. Dann erfand sie den Tausch, und verkündete den Landlosen: ‚Schaffet an meiner statt, und ich gebe euch dafür das Brot, das ich euch entzog!‚ Dann erfand sie die unverderbliche  Ware, die es gar nicht gibt, was dazu führte, dass die einen diese im Übermaß horteten, und die anderen mühsam oder vergeblich sich selbst verleugneten, um etwas davon zu erhalten, denn nur darüber war noch Nahrung zugänglich. Und so wucherten Höfðingar landauf, landab, und jene, die übrig blieben. Da aber noch das Prinzip herrschte, dass jedes konkrete Individuum sich seinen Goði frei wählen konnte,  den Goðar daher jederzeit die Gefolgschaft aufgekündigt werden durfte, ohne deswegen etwas Nachteiliges befürchten zu müssen,  erfand sie die Ideologie, die Nation, die Gesellschaft, die Akzeptanz, welche nur das Ausmaß an Gefolgschaft, die Ochlokratie, die Diktatur der Mehrheit, die Querulanten, die Leitkultur, die Nestbeschmutzer,  ersetzte Gattung durch Volk,  und Wissen durch Meinung, und was noch so alles an Begriffsbildungen möglich, verhedderte und verirrte sich in dem auf solche Weise entstandenen Begriffslabyrinth, verwarf endgültig, dass etwas unstrittig sein könne, und da es hierfür noch keinen Begriff gab, nannte sie es Zivilisation.“

Tilvera: „Du scheinst mir ein Defätist zu sein.“

Ónytjungur: „Du hörst einen, der mutlos und hoffnungslos ist, und die eigene Sache für aussichtslos hält? Setzte eine solche Haltung nicht voraus, dass da einer sich auf den Weg gemacht hätte, Gefolgschaft für die eigene Sache zu suchen, da von Sucht nach Bestätigung oder Widerspruch heimgesucht?  Was wäre da schon anderes gewonnen als Gesocks.“

Tilvera: „Nun, das liegt daran, dass du strohdumm bist.“

Ónytjungur: „Da lob ich mir doch die Dummheit. Verhält es sich nicht so, dass Gefolgschaft es war, die aus der Menge von Milliarden Exemplaren einem Dutzend aus dieser Menge die Möglichkeit schuf, dass dieses Dutzend jedes Lebende von dieser Erde jederzeit auslöschen dürfe, wann immer es einem aus diesem Dutzend gefiele, und die Befugnis hierzu als notwendig ausgab, wider besseren Wissens die Behauptung aufstellend, bereits die Gattung begründe, dass es sich bei solchen bereits per-se um ein vernunftbegabtes Wesen handeln müsse?“

Tilvera: „Dem Versuch einer Abschaffung dieses Zustands wird von intelligenten Leuten kein Erfolg attestiert, wie du weißt. Bist du nun ein systematischer Schlechtreder gesellschaftlicher und politischer Umstände geworden?“

Ónytjungur: „Ich erzähle dir nur, was ich mir auf meinen Reisen erfahren hatte, und nichts darüber hinaus. Sage mir, falls ich lüge, und meine Erinnerung mich betrogen habe, und ich werde meine Erzählung korrigieren.“

Tilvera: „Nun, für den Fall, dass du dich noch daran erinnern kannst: ich sprach nur vom Genom.“

Ónytjungur: „Auch ich spreche von nichts anderem. Sag mir, wie nennst du Etwas, das zwar in der Lage ist, einen gesprochenen oder geschriebenen Satz als Aneinanderreihung von Begriffen zu erkennen, darin enthaltene Begriffe extrahieren und bereits vorhandenen Begriffen zuordnen kann,  Beziehungen und deren Kardinalität in einem Gedächtnis ablegen kann, ausschließlich  in der Lage ist, einer vorgegebenen Reihenfolge von Entscheidungen, Wiederholungen und Anweisungen zu folgen, nur dazu fähig, Erkenntnisse ausschließlich aus dem Gebrauch vorliegender Statistiken gewinne, und jegliche Entscheidung nur auf Grundlage vorliegender statistischer Daten treffen kann? Nennst du solches etwa vorhandenen Verstand, oder Verständnis, oder Besinnung, oder Einsicht?“

Tilvera: „Dies wäre erst anhand jener Begriffe feststellbar, die diesen Nomen vorausgingen, demnach  die Begriffe für  die Tätigkeiten überlegen, verstehen, begreifen, besinnen, und einsehen, da erst über diese Tätigkeiten einer möglichen Vorstellung zugänglich.“

Ónytjungur: „Und ist verstehen, begreifen, sich besinnen, und einsehen möglich im Falle, einer wüsste nur jenes, was ihm persönlich bekannt, jedoch nicht jenes, was ihm unbekannt, dennoch aber vorhanden?“

Tilvera: „Es wären nur solche Annahmen herstellbar, welche das im Unbekannten gebliebene nicht berücksichtigten, was zwangsläufig zu irrtümlichen Entscheidungen führe. Irrtum wäre daher bereits systemimmanent und  vorprogrammiert.“

Ónytjungur: „Womit der Satz erklärt, dass ein Mensch sich stündlich irre. Und da dem so ist, überträgt er nun jenes, was er für Intelligenz hält, auf eine neu geschaffene Gattung, die in der Lage, sich – im Gegensatz zu ihm selbst –  jede Millisekunde irren zu können. Womit ich beim Genom angekommen.“

Tilvera: „Und worin bestünde deiner Ansicht nach die Verbindung mit jenem, von dem du erzähltest, mit jenem, was Genom genannt?“

Ónytjungur: „Nun, ich hörte davon, dass bei diesen Wesen sogenannte Pseudogenome gefunden wurden, die jedoch nicht mehr im Gebrauch seien, vermutlich durch Mutationen außer Kraft gesetzt.“

Tilvera: „Und?“

Ónytjungur: „Nun, ich habe, wie du meiner Erzählung entnehmen konntest, durchaus Anlass zu der Vermutung, dass jene Gattung, die sich selbst die Eigenschaft eines vernunftbegabten Wesens zuschreibt, zwar für Vernunft begabt sei, allerdings größten Wert darauf lege, diese Begabung nicht zu nutzen, diese daher nun in solchen sogenannten Pseudogenen ungenutzt auf jenen Zeitpunkt harre, an dem es wieder opportun, Verständnis und Einsicht zu praktizieren, da sich mittlerweile über die Methode trial-and-error herausgestellt habe, dass erst diese beiden den Fortbestand der Gattung sicherstellen würden, und nicht – wie irrtümlich angenommen – jenes, was Intelligenz genannt, da diese ja nichts weiter als das Resultat aus vorhandener Gefolgschaften, und deren jeweiligem Diktat, welches Akzeptanz genannt.“

Tilvera: „Womit du eindrucksvoll für jedermann belegst, dass du kein vernunftbegabtes Wesen bist“.

Ónytjungur: „Was kein Schaden ist. Ermöglicht doch diese Eigenschaft uns Tröll, aufmerksam zu sein, und sich auf unseren Reisen Wirklichkeit erfahren zu können. Lass mich dich daher mit einem Vers willkommen heißen.“

Tilvera und Ónytjungur fassten sich bei den Händen, sangen ein Lied, und tanzten auf ihrem Stein:

„Hrörnar þöll
sú er stendur þorpi á.
Hlýrat henni börkur né barr.

Svo er maður
sá er manngi ann.

Hvað skal hann lengi lifa?“  1)

 

1) Anm.: Vers 50, „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986 , Übersetzung:

(50) „Die Kiefer verdorrt, die auf kahler Höhe steht,
Ihr nützt nicht Nadel noch Rinde.
So geht es dem Mensch, den niemand mag:
Was soll er lange leben?“

Ystu endimörk

Die Chaoten von Ystuendimörk hatten einen Geigerzähler gekauft, und veröffentlichten die Becquerel-Werte von Waldfrüchten, Pilzen, etc. in der Zeitung der Chaoten.

Ihr Modell der angewandten  Demokratie baute auf dem Begriff Arete auf, ging demnach von der Voraussetzung aus, dass die Menschen  Tapferkeit,  Besonnenheit,  Freigebigkeit,  Gerechtigkeit,  Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit ausüben, da die Möglichkeit hierfür existiere,  und sie die dritte Stufe  des Wissens erreicht hätten, die sich aus den Teilen Wirklichkeit und Möglichkeit zusammensetze.

An Wochenenden schnitten die Chaoten alle eingegangenen Artikel und Leserbriefe in mühsamer Kleinarbeit mit der Schere in passende Stücke, reihten diese auf einem Bogen Papier der Größe einer Doppelseite der Zeitung nebeneinander, reicherten die Bleiwüste durch Bildmaterial an, fügten dann die Schnipsel auf die großen Bögen zu einem Layout,  … aufgeklebt, der nächste,  … und dies solange, bis auch die letzte Seite der Zeitung für den Druck fertiggestellt.

Hätte einer in der Redaktion darauf hingewiesen, dass ihm durch seine unentgeltliche Tätigkeit, die er aus freien Stücken wählte, ein Anspruch daraus entstünde, entweder par ordre du mufti, oder hilfsweise durch Mehrheitsentscheid von Gesinnungsgenossen, darüber entscheiden zu dürfen, welcher Text ihm genehm sei, und daher einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfe, und welcher Text ihm missfalle, der Artikel somit der Ablage „P“  zu übergeben wäre, die Gruppe hätte diesen konfirmiert, und unter Inanspruchnahme des Werbeslogans „Alles Müller oder was?“ forthin zu den Schwachsinnigen gezählt.

Derartige Attitüden waren den Chaoten in Ystuendimörk fremd, denn anderenfalls wären sie auch keine Chaoten. Und so einigten sich die Chaoten in Ystuendimörk darauf, dass allenfalls ein leichtes Schmunzeln beim Einkleben des Textes in den Layout-Bogen hinzunehmen wäre, wenn zum Beispiel der einzige bekennende Kommunist, der im Landkreis ungerührt von allen Anfechtungen weiterhin tapfer das Wort ergriff, zum x-ten Mal in einem Text sein stets gleichbleibendes Steckenpferd ritt. Alles Weitere wurde dem freien Wort übereignet. Das Plenum war die Zeitung, denn aus keinem anderen Grund unterzogen sie sich der Mühe.

Denn der Grund, aus dem die Chaoten von Ystuendimörk zusammenkamen, und völlig hirnrissig nichts Besseres mit sich anzustellen wussten, als Freizeit und eigene Geldmittel ausgerechnet darin zu investieren, Papierschnipsel auf Papierbögen zu kleben, war kein anderer als eben jener, dass bei den Meinungsmachern, die ihr Handwerk als Beruf ausführten, die Ablage „P“ bereits die Größe des  Zeitungsarchivs angenommen hatte. Was keineswegs daran lag, dass da Zensur ausgeübt, wie böse Zungen gerne behaupten, sondern einfach daran, dass die Menge an Nachrichten, die von größtem  öffentlichen Interesse waren, einen derartigen Umfang angenommen hatte, dass die einzige lokale Tageszeitung als tägliches Buch herauszugeben gewesen wäre, wolle sie zusätzlich zu den Berichten der Sportmannschaften, die auf regionalem Niveau entweder verloren oder gewannen, den Berichten aus dem regen Vereinsleben, und den Berichten über die Events der Lokalpolitiker, nun auch noch völlig überflüssige Becquerel-Werte von Waldfrüchten, Pilzen, etc. publizieren.

Wie bei Chaoten in Ystuendimörk nicht anders zu erwarten, erkannten sie noch nicht einmal, dass sie bereits dadurch die Merkmale einer Bürgerinititiative zeigten, da sie die Veröffentlichung von eingereichten Artikeln den Autoren gar nicht in Rechnung stellten, da dies von Autoren unter normalen Umständen ja zu bezahlen wäre.

Erst Jahrzehnte später sollte sich herausstellen, dass die Sorge der Chaoten, die als Panikmache verlacht, sowie die Verantwortbarkeit ihres Handelns, die als Querulanz verteufelt, keineswegs unbegründet war, und dass die Maßnahmen der Erwachsenen in jener Zeit, Kindern auf die Finger zu schlagen, weil sie in Ermangelung anderer Spielmöglichkeiten auf kontaminierte  Rasen rannten, da die Bäder geschlossen waren, die Sandkästen keinen Sand mehr enthielten, nur hilflose Gestik war in einer Wirklichkeit, die  den unmittelbar davon Betroffenen vorenthalten.

Denn neben jenem fremden und  unsichtbaren Eindringling, der immerhin noch in Becquerel messbar, gab es noch einen weiteren unsichtbaren Eindringling, der allgemein unter dem Begriff „garbage in – garbage out“ und „trial and error“ sein Unwesen treibt: das hochintelligente Computer-Programm. Und da solche Programme derart hochintelligent sind, erfuhren sowohl die lokalen Chaoten wie die lokalen Nicht-Chaoten erst nach Jahrzehnten, dass sie ausgerechnet einem dieser Querulanten, die ja berüchtigt dafür sind, dass sie einfach unwillig, ihre Aufmerksamkeit  an der Garderobe der Konformisten abzugeben, noch dazu einem ausgewachsenem Kommunisten, und  dann auch noch ein Rotarmist, die Fortsetzung ihres Lebens verdanken. Sein Name:  Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow.

In der Nacht von Sonntag auf Montag, am 26. September 1983, kurz nach Mitternacht – in der Musikkneipe von Ystuendimörk, von allen Bewohnern nur die „Eule“ genannt, wurde gerade die Platte „Never going back again“ von Fleetwood Mac aufgelegt , da in jener Zeit dieser Song dort immer die Sperrstunde einläutete, damit die Nimmersatten sich schnell noch einen „Schnitt“ bestellen konnten -, waren die Bürger von Ystuendimörk nur noch einen Atemzug von einer alles verschlingenden Mitternachtssonne entfernt. Allerdings einer solchen Mitternachtssonne, die von Menschen erschaffen, diese daher niemanden in kalten Nächten wärmt, sondern nur jeden verglüht oder verstrahlt.

Wenn eine Information von essentieller Wichtigkeit für jeden Bürger ist, neigen staatstragende Würdenträger wissenschaftsbasierter Informationsgesellschaften gerne zu der Ansicht von Despoten, indem sie argumentieren, dass genau solche Informationen den gemeinen Staatsbürger überhaupt nichts anginge. Und so blieben die Bürger von Ystuendimörk jahrzehntelang unwissend, hatten nicht die leiseste Ahnung davon, dass sie mittlerweile sowohl bei 1.200 signifikanten Unfällen, als auch bei den  pro Woche auftretenden ein, zwei Computeralarmen, welche auch nur bei einer einzigen Nation gezählt, jedes Mal im letzten Augenblick gerade noch dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen waren. Dass dem so ist, ergibt sich bereits aus dem Faktum, dass Radioaktivität  mittels Wind, Wasser und Wolken verreist,  daher weder Visa noch  Reisepässe benötigt, und ihr Landesgrenzen als purer Tand aus Menschenhand gilt.

Dass die Bürger von Ystuendimörk jahrzehntelang unwissend blieben, ist darauf zurückzuführen, dass es sicherlich schwierig wäre, den Delinquenten zu vermitteln, dass jede Person, ob nun Mann, Frau oder Kind,  per Anordnung pro forma, de jure, und de facto zum Tode verurteilt sei. Und da dem so ist, erübrigt sich auch jene Praxis, welche zum Tode verurteilten Kriminellen zuteilwird, die daraufhin  in ihrer Zelle auf ihre Hinrichtung warten, um dann, unmittelbar  nachdem sie bereits auf den Elektrischen Stuhl geschnallt, die Mitteilung zu erhalten, dass zwar ihr Gnadengesuch abgelehnt, die Hinrichtung jedoch verschoben worden wäre.

Es wäre auch sinnlos gewesen, hätten die Wissensträger die Bürger von Ystuendimörk bei jedem signifikanten Unfall oder Computeralarm davon in Kenntnis gesetzt. Es hätte ohnehin niemanden interessiert. Waren diese  doch durch Bildung und Aufklärung längst schon zu vernunftbegabten Wesen herangereift.

Und so geschah, was nicht mehr aufzuhalten war: Bildung und Aufklärung setzten diesem seltsamen Treiben der Chaoten in Ystuendimörk ein Ende. Hatten die Chaoten doch den Bogen überspannt, als sie darauf hinwiesen, dass die mittlerweile nicht mehr überschaubare Menge an billigen Konsumgütern, die im Überfluss die ungezählten Regale der Supermärkte und Warenhausketten füllen,  fast durchwegs  auf gnadenloser Ausbeutung der Bevölkerung anderer Kontinente beruhe. War doch nur über solche Handlungsweise das Überleben der eigenen Bevölkerung überhaupt erst zu gewährleisten, folglich gottgegeben, und keinesfalls gewollt.  Zudem habe man sich keineswegs lumpen lassen, und hätte im Gegenzug auch reichlich Güter in diese Länder geliefert, und dies nicht zu knapp. Und dafür, dass diese primitiven und archaischen Kulturen seit geraumer Zeit Glasperlen als Gegenleistung ablehnen, was nicht nur unverständlich sei, sondern auch noch gegen die guten Sitten verstoße, und nun nur noch Interesse an hochtechnisierter Kriegstechnik hätten, könne man schwerlich verantwortlich gemacht werden.

So war nicht verwunderlich, dass jene Bürger, welche die Zeitung von den Chaoten übernommen hatten, der Ansicht waren, dass mittlerweile der Punkt „Ad nauseam“ längst überschritten wäre. Wie stünde man sonst da vor den sinnbegabten Esoterikern und Sektenpriestern, die von Sorge um das autochthone Volk bereits gramgebeugt in die Naturkostläden strömten. Sahen diese  doch mit Seherblick bürgerkriegsähnliches Chaos ausbrechen, der illegale Schwarzmarkt für Waffen sei bereits leergefegt, und verantwortlich für diese Entwicklung seien die Vereinten Nationen, die auf Geheiß verborgener Strippenzieher nichts unversucht gelassen, und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatten, damit das autochthone Volk von Hunnenhorden überrannt werde. Und diesmal – und  so viel Zeit müsse schon sein, um darauf hinzuweisen – heiße der dafür verantwortlich zu machende Jude nicht Rothschild, sondern Georg  Soros, der sich zudem auch noch auf Kosten anderer bereichert habe.

Die Zeit der Chaoten und  Graswurzelbewegung in Ystuendimörk ist längst Vergangenheit. Es stellte sich heraus, dass in einer wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft weder genügend Platz noch Zeit für basisdemokratische und konsensorientierte Querulanten. Wo einst Wissen die Menschen in unangenehm drückende Schranken verwies, erkämpften sich die so Geschundenen endlich ihre Befreiung, indem sie an dessen Stelle die Meinung setzten.

Und so kehrte auch in Ystuendimörk nach all den Irrungen und Wirrungen endlich wieder Ruhe ein. Nur noch die Erinnerung daran lebte fort, in den Rührseligkeiten jener mit der Zeit alt gewordenen Männer und Frauen, denen die Pflicht zu Gehorsam und Unterordnung stets ein fremder Gedanke war, und daher als Chaoten galten.

Möge daher diesen die Erinnerung an jene Zeit, an der sie Anteil haben durften und Anteil hatten, über alle weiteren bösen Überraschungen beim Renteneintritt hinweghelfen. Mögen sie ihren Nachkommen davon erzählen, so jene Geschichten aus der Vergangenheit erzählt bekommen wollen. Und mögen die Erzähler dann ihre Erzählung mit dem Satz eines Affen beenden: „Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im Übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“

[ Anmerkung der Redaktion

Zur  Sorgfaltspflicht der Presse gehört, vor Verbreitung eines Artikels diesen mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Wahrheit und Herkunft zu prüfen. Üblicherweise verlinken wir niemals Eruptionen von Nazis, selbst dann nicht, wenn diese sich mit den neuen Begriff „Reichsbürger“ tarnen. Sollte ein Leser den Begriff „Reichsbürger“ noch nicht kennen, möge er anhand eines veröffentlichten „Leserbriefs“ dieser Sorte einen Eindruck gewinnen, der von den Nachfolgern der einstigen Graswurzelbewegung wohlwollend veröffentlicht wurde .]

Og munurinn er

Um die Mittagsstunde herum zählten die Trolle Javnvægi und Javnvægistruflun oberhalb von Furufjörður auf Hornstrandir die Regentropfen.

Jafnvægi: „Lass uns das Spiel der Wesen spielen. Auf welches Spiel hättest du heute Lust?“

Jafnvægistruflun: „Das Spiel der Aufregung.“

Jafnvægi: „Gut. Wir brauchen demnach 88 schwarze Obsidiane, 4 rote Jaspis und 2 weiße Liparit. Die Basaltbrocken holen wir uns dann später auf den Stein.“

Jafnvægistruflun formte auf dem Stein das Schachbrett der Aufregung aus feinem Lavasand, die 92 Spielfelder, bestehend aus 23 Reihen mit je 4 Feldern. Jafnvægi legte die 88 Obsidiane in die ersten 22 Reihen, in die letzte Reihe legte er 3 rote Jaspis und einen Liparit. Den restlichen Jaspis und den Liparit nahm er an sich.

Jafnvægi: „So, jetzt kann das Spiel funktionieren. Die linke Hälfte auf dem Spielbrett nenne ich Kona und die rechte Hälfte  Karlmenn, und beide zusammen sind das Spielfeld, das ich Manneskja nenne. Aber erst der minimale Unterschied dort ermöglicht das Spiel.“

Jafnvægistruflun: „Das wird schiefgehen. du weißt doch, es ist die Natur von Steinen, immer nur auf den Unterschied zu schielen, den eigenen deswegen stets für besser zu halten, und schon ist das Malheur passiert. Das kann daher nur schiefgehen.“

Jafnvægi: „ Sei‘s drum. Mit welchem der Spiele willst du anfangen, mit dem Spiel der Spielbretter oder mit dem Spiel von dessen Hälften?“

Jafnvægistruflun: „Mit dem Spiel der Hälften.“

Jafnvægi: „Du kennst die Spielregeln. Jedes Mal, wenn in der letzten Reihe von Kona zwei Jaspis liegen, und daneben bei Karlmenn ein Jaspis und ein Liparit, so wie von mir aufgestellt, darf ich einen Stein, entweder den Jaspis, oder den Liparit von der rechten auf die linke Seite legen, und für den Fall, auf der linken Seite befände sich dann ein Liparit, diesen für mich behalten, im anderen Fall bekomme ich einen von den zwei vorherigen Jaspis der linken Seite. Aber als Ausgleich dafür muss ich immer den fehlenden Stein auf der rechten Seite aus meinem Guthaben ersetzen.“

(C) Zen&Senf

„Ich weiß“, antwortete Jafnvægistruflun: „ du willst die Spielregel erfüllen, dass sich die Steine vergnügen, wenn sonst schon alles so beschwerlich erscheint. Das Spiel dauert daher solange an, solange du zwei ungleiche Steine bei dir hast. Erhältst du auf diese Weise drei Steine, hast du gewonnen, und das Spiel ist zu Ende. Hast du aber zwei gleiche Steine, hast du ebenso gewonnen, magst aber nicht mehr spielen. Es ist das Spiel, bei dem du immer gewinnst, was mich auch so aufregt. Und bei jedem Spielzug legen wir einen der Basaltbrocken auf unseren Stein, der das Ergebnis darstellt. Keine Sorge, ich weiß Bescheid.“

Als die Mitternachtssonne den Basalthaufen auf dem Stein in silbernes Licht tauchte, wurde es Javnvægistruflun zu bunt, und er schüttelte Jafnvægi:: „Bist du blind und taub? Die rechte Seite ist mittlerweile der Meinung, sie sei der Herr und Gebieter auf dem Spielfeld, und die linke Seite ist schon längst zu der Ansicht gelangt, die rechte Seite denke immer nur an das Eine. Die fetzen sich doch nur noch, statt sich zu vergnügen!“

Jafnvægi: „Wenn sich beide Figuren aus dem gleichen Grund, also diesem einen einzigen winzigen Liparit, der nur den zweiundneunzigsten Teil ausmacht, in die Haare kriegen,  ist das doch deren selbst geschaffenes Problem, also deren Eigenschaft, und keine Eigenschaft des Spiels. Weswegen schüttelst du dann aber mich? Was habe ich damit zu schaffen, wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt? Was mich betrifft, ich habe immer fair gespielt und kein einziges Mal geschummelt. Auch kam keiner dabei zu Schaden, im Gegenteil.“

Jafnvægi schob ungerührt einen Liparit von der rechten auf die linke Seite, nahm von dort einen Jaspis an sich, und ersetzte den fehlenden Stein auf der rechten Seite mit einem Liparit.

„Du hast den falschen Stein auf die rechte Seite gesetzt!“, schrie Jafnvægistruflun: „Du hast geschummelt, und die Spielregeln nicht eingehalten!“

Jafnvægi: „Die wollten das so. Ich hätte sie sonst um ihr Vergnügen gebracht, und das wäre, wie du weißt, gegen die Spielregeln gewesen. Wie du siehst, habe ich zwei gleiche Steine bei mir, das Spiel ist also regulär zu Ende. Ich habe demnach weder geschummelt, noch hab ich die Spielregeln verletzt.“

„So geht das nicht!, ereiferte sich Jafnvægistruflun: „Dann kannst du ja auch gleich einen Jaspis von der linken Seite auf die rechte Seite schieben, dort den Liparit an dich nehmen, und den fehlenden Stein auf der linken Seite mit einem Jaspis ersetzen!“

„Auch dann hätte ich zwei gleiche Steine bei mir, und auch dann wäre das Spiel regulär zu Ende. Wo siehst du das Problem?“, fragte Jafnvægi, und kletterte vom Stein: “Du weißt doch, wir können bei dem Spiel ohnehin nur gewinnen, wie auch die rechte und linke Hälfte. Was auch immer geschieht in dem Spiel, die haben ihr Vergnügen dabei, und wir auch.“

„Aber wozu hast du dann den einen einzigen winzigen Unterschied erst auf das Spielfeld gelegt!“, fuchtelte Jafnvægistruflun vom Stein herab: „Das kann doch nicht ungesühnt bleiben, dass die Hälften darauf pfeifen. Das ist doch eine Respektlosigkeit ohnegleichen!“

Jafnvægi winkte Jafnvægistruflun auf dem Stein zu sich: „Nun reg dich doch nicht so auf, und komm schon vom Stein herunter, es bleibt dir ja auch nichts anderes übrig, wie du weißt. Es ist auch schon spät, und ich habe keine Lust mehr, weiterzuspielen, außerdem nervt mich langsam, dass du so gut Deinen Part spielst. Was heißt hier schon Respektlosigkeit. Schon vergessen, wer das Spielfeld mit dem einen einzigen winzigen Unterschied aufgebaut hat, und damit erst die Möglichkeit bereitstellte, das Spiel auch auf diese Weise zu beenden? Zu deren, wie zu meinem Vergnügen? Und vergiss nicht die Eigenschaft von allen Spielen: wenn das Match zu Ende ist, wen gibt es dann nicht mehr? Die Rolle der Figuren auf dem Spielfeld, das Spiel als solches, oder dessen Regel?“

„Die Figuren“, kicherte Jafnvægistruflun, fegte Obsidiane, Jaspis und Lipari mit einem Wisch vom Stein, und folgte Jafnvægi: „Jetzt sind es nur noch irgendwelche Steine, nichts ist kaputt gegangen dabei, und jeder kam auf seine Kosten. Es ist schon so, dass nur diese Wesen glauben, der Schwanz könne auch mit dem Hund wedeln. Hast du den Berg aus Basaltbrocken auf unserem Stein gesehen?“

„Das kommt noch oben drauf“, lachte Jafnvægi: „So hat es auch sein Gutes, wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Wir hätten vielleicht sonst nur noch unter dem Stein Platz gefunden.“

Jafnvægi und Jafnvægistruflun tanzten um den Stein und sangen:

(17) „Der Trottel gafft,
wenn er zum Fest kommt
spricht unaufhörlich und brüllt.
Wenn er alsbald
sein Schlückchen getrunken hat,
offenbart er, welches Sinnes er ist.

Zurückzählen

(be)

Der Zustände sind es sechs
in ein und desselben:

das gesprochene Wort
der geschriebene Satz
das erlebte Tun

das unterlassene Wort
das fehlende Dokument
die erfahrene Unterlassung.

Der Ereignisse sind es fünf
dem ein und dasselbe ausgesetzt:

was nottut
was verhindert
was ermöglicht
was entbehrlich
was gefällt.

Der Gebilde sind es vier
in ein und desselben:

der Lebensgefährte
die Nachkommen
der Freund
das darüber hinaus.

Der Erfahrung sind es drei
in ein und desselben:

der Widerstand
die Akzeptanz
die Gleichgültigkeit.

Der Beziehungen sind es zwei
in ein und desselben:

zu sich selbst
zu einem Gegenüber.

Ohne Zahl die Eins
in ein und desselben:

keine Länge
keine Breite
keine Höhe

: das Selbst.

Jenseits dessen –
: das Reich der Märchen.

Rede laut und deutlich