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„Teil des Seins eines Isländers“

Am 30. November veröffentlichte die New York Times einen Artikel der Autorin Kimiko de Freytas-Tamura über ein isländisches Phänomen: „On an Island Named for Ice, the Poets Are Just Getting Warmed Up„. Übersetzung aus dem Englischen:

Von KIMIKO DE FREYTAS-TAMURA NOV. 30, 2016:

Island, so scheint es, ist voll von versteckten Dichtern.

Wenn sie nicht ihrem Hauptberuf nachgeht, versucht sich eine große Anzahl der 330.000 Einwohner zählenden Insel in Versen, auch Politiker, Geschäftsleute, Pferdezüchter und Wissenschaftler, welche die genetische Isolation der Insel in der Verfolgung medizinischer Durchbrüche studieren. Selbst David Oddsson, der 2002 Ministerpräsident war (als die isländischen Banken privatisiert wurden) und Zentralbankpräsident im Jahr 2008 (als die Banken zusammenbrachen), ist ein ausgebildeter Dichter .

Birgitta Jonsdottir, die Anführerin der anarchistisch ausgerichteten Piratenpartei, die sich bei der gegenwärtigen Parlamentswahl sehr gut bewährt hat, beschreibt sich ziemlich hochfliegend als „Poetikerin“. Ihr erstes veröffentlichtes Gedicht „Schwarze Rosen“ schrieb sie, als sie 14 Jahre alt war, und drehte sich um einen nuklearen Holocaust.

Kari Stefansson, einer der weltweit führenden Genetiker und Gründer von Decode Genetics, erinnerte sich an ein Gedicht, das er 1996 schrieb, wenige Monate nach der Geburt von Dolly, dem geklonten Schaf.

„Ich war ein wenig depressiv“, sagte Herr Stefansson in seinem Büro, das mit seinen Schlitzfenstern und Computerbildschirmen ein wenig wie das Innere eines Raumschiffs aussah. „Einer meiner Wege, damit umzugehen, war, ein kleines Gedicht zu schreiben“, sagte er, bevor er fortfuhr, es zu rezitieren:

Wo finde ich, verloren in der Helligkeit eines sonnigen Tages,
das Glück eines unglücklichen Menschen.

Günstig nur, eine Kopie von sich selbst zu sein.
Alles andere stinkt.

Poesie ist ein nationaler Zeitvertreib, nicht eine besonders „fachliche Tätigkeit“, sagte Sveinn Yngvi Egilsson, Professor für isländische Literatur an der Universität von Island. „Sie ist ein Teil des Seins eines Isländers“, sagte er. „Ja, es ist charmant, nicht wahr?“

In früheren Zeiten waren Verse ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Zusammenkünfte und wurden oft improvisiert, sagte er. Dichterwettbewerbe fanden statt, wobei die Preise an die witzigsten und schärfsten Verse gingen. Die beliebteste Versform, sagte er, wird „ferskeytla“ genannt, vier gereimte Strophen, die in zwei Teile aufgeteilt werden können.

Isländer sind ungewöhnlich fruchtbare Leser und Schriftsteller, und Gedichtbände neigen dazu, sich gut in Island zu verkaufen. Poesie war den Zahlen der Nationalbibliothek zufolge die drittgrößte Kategorie von Büchern, die im Lande im Jahr 2014 veröffentlicht wurden, nach Fiktion und Kunst. In diesem Jahr wurden weit mehr Poesie-Bücher in Island veröffentlicht, als Bücher über Wirtschaft oder öffentliche Verwaltung. (Es gab anscheinend überhaupt kein Buch über Finanzwirtschaft.)

Das kalte ozeanische Klima und lange Winternächte können auch etwas damit zu tun haben. „Die Leute bekommen gewöhnlich Langeweile, und sie versuchen, sich gegenseitig bei Laune zu halten“, sagte Professor Egilsson. „Einer dieser Wege ist die Poesie.“

Übersetzung: B. Pangerl

Gegen jede Einförmigkeit

troll-imadeWEB-1Wie jedes Jahr wurde am 16. November, dem Geburtstag des Dichters Jónas Hallgrímsson, auf Ísland der Tag der Isländischen Sprache gefeiert, und der Kultusminister vergab den Jónas- Hallgrímsson-Preis für wichtige Beiträge zur isländischen Literatur.

Dieses Jahr wurde der isländischer Dichter und Übersetzer Sigurður Pálsson ausgezeichnet. In seiner Dankesrede sprach Sigurður Pálsson über die Wichtigkeit von Sprachstudien:

Jener, dessen Sprache nur wenige Menschen verstehen, ist in der attraktiven Position,  gezwungen zu werden, eine andere Sprache zu lernen. Der Zwang ist sowohl süß  als auch lohnend. Eine andere Sprache zu lernen bringt die Fähigkeit für eine vielfältigere Einstellung zur Vielfalt der Welt hervor, und arbeitet gegen jede Einförmigkeit. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Einförmigkeit ist nicht nur widerwärtig und uninteressant – sie ist gefährlich. Sie kann zu Isolation, Angst und Hass führen. Durch das Lernen fremder Sprachen stellen wir uns in andere Fußstapfen, und können deren tieferen Sinn verstehen. Sprachstudien umfassen nicht nur ein neues Vokabular, sondern auch eine andere Denkweise, eine andere Erinnerungssammlung, eine andere Weltanschauung, einen anderen kulturellen Reichtum.

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(Bild: Bernhild Vögel)

 

 

Lichtbrief an Skuggi

bv1„Mehr Licht!“ soll angeblich Goethe gefordert haben, kurz bevor das Leben aus ihm wich. Stürbe er in heutigen Zeiten, so wäre ihm gut und gerne die gegenteilige Äußerung zuzuschreiben: „Weniger Licht, bitte!“

Du kennst die Schattenseiten am besten, lieber Skuggi*, und benötigst kein Lamento über Lichtverschmutzung und das paradoxe Phänomen, dass menschengemachtes Licht den Sternenhimmel nachhaltig verdunkelt.

Am 28. September 2016 jährte sich zum zehnten Male die Nacht, in der in Reykjavík alle Lichter ausgingen. Der Schriftsteller Andri Snær Magnason hatte die Aktion Lights Off Stars On ins Leben gerufen, denn, so seine Botschaft, Perfect Black reveals Perfect Nature. Und in der Tat, die Stadtbewohner staunten über die Pracht des wiedergewonnenen Sternenhimmels und manch einer erschrak beim Anblick der vom Sternenlicht unterstrichenen Schwärze des Universums.

Die Sterne senden in einer klaren Nacht immerhin so viel Licht aus, dass jeder Mensch, der nicht nachtblind ist, sich ohne Hilfsmittel orientieren kann. Aber nur dem Mond gelingt es, Lichteffekte wie Schattenwurf oder den selten beobachteten Mondbogen zu erzeugen. Wenn du aber ein einfaches Mondlicht-Experiment machen willst, dann gehe in einer Vollmondnacht einen unbeleuchteten Weg so entlang, dass du den noch ziemlich tiefstehenden Mond im Rücken hast. Er wird dir einen wunderbaren Schatten schenken, der dir voraus schreitet. Und du weißt ja: Der Schatten eines Körpers, der von einer Lichtquelle erzeugt wird, ist exakt berechenbar. Aber nun nimm einen Fotoapparat zu Hand und knipse deinen Schatten. Mit Blitzlicht erhältst du ein klares Foto des Weges und seiner näheren Umgebung – nur, was fehlt, ist dein Schatten. Also: Mit mehr Licht lässt sich ein Schatten unsichtbar machen. Was auch bedeuten kann: Zuviel Licht nimmt jedem Wesen seinen Schatten, und ohne Schatten bist du nur ein armer Schlemihl.

Licht ist keine Mangelware in den Städten, von Reykjavík bis Berlin, von Hammerfest bis Kapstadt. Ungeachtet dessen erfreut sich Leuchtkunst im öffentlichen Raum zur Erhöhung des Lichtaufkommens wachsender Beliebtheit. Dass Polarkreisanrainer in den langen Wintern, in denen die Sonne allenfalls kurze Gastspiele im Südosten veranstaltet, allerlei Lichtexzesse begehen, ist sonnenklar und verständlich. Jedoch würde es in Island niemandem einfallen, in den Sommermonaten einen so genannten Lichtparcours auszurichten. Denn dies besorgt die natürliche Solarquelle, auch Sonne genannt, die sich im Nordwesten unterhalb des Horizonts an den Norden heranschleicht, um kurz danach wieder aufzutauchen und die Nacht zum Tage zu machen, und dies ausdauernder, als manch schlafbedürftigem Erdenwesen zuträglich ist. Eines gar seufzte, als sich um Mittsommer die sonnigen Tage gar nicht mehr zu neigen schienen: „Nur einen einzigen stark bewölkten, regnerischen Tag, bitte!“ An wen diese Bitte gerichtet war, ist nicht bekannt.

In der norddeutschen Stadt Braunschweig ist kürzlich ein mehrmonatiger Lichtparcours zu Ende gegangen. Sich an dieser sommerlichen Erleuchtung zu beteiligen, war sicherlich eine besondere Herausforderung an isländische Künstler. Elín Hansdóttir hat sie angenommen. Auf ihrer Internetseite stellt sie ihr künstlerisches Konzept vor:

innen„Elín Hansdóttir ist eine isländische Künstlerin in Berlin. Ihre standortspezifischen Installationen richten sich durch Manipulation von architektonischen Formen, akustischen Elementen und optisches Spiel auf des Betrachters Erfahrung von Baulandschaften  Sie schafft in sich geschlossene Welten, die unter ihren eigenen Regeln zu agieren scheinen, indem sie einen harmlosen Raum in einen verwandelt, der sich über Erwartungen hinwegsetzt und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren scheint.“ (Original auf Englisch)

Auf dem Grünstreifen, der die Fahrspuren entlang des Braunschweiger Bruchtorwalls teilt, stand den Sommer über Elíns CAST, ein aus Holz errichtetes zweiteiliges Objekt. Während es sich zur bebauten Wallseite geschlossen präsentierte, fehlte den Wänden zur Parkseite hin jedes zweite Brett, so dass lichtdurchlässige Zwischenräume entstanden.

nacht2Alle Installationen des diesjährigen Braunschweiger Lichtparcours sollten auch bei Tage ansehnlich sein, doch CAST war das einzige, das bei Dunkelheit ohne eigene Lichtquelle auskam. Das unbeleuchtete Lichtobjekt reflektierte das vorhandene Licht, am Tage das Sonnenlicht und nachts Scheinwerfer, Straßenlaterne und Mondlicht.

War CAST eine Gussform, in die sich eigene Vorstellungen einbringen und herausschälen lassen?

Auf der Informationsseite des Parcours steht das Wort „kompassförmig“ – eine Vorstellung, die sich möglicherweise bei der Draufsicht auf das Modell bildete, der aber die Richtung fehlte. Denn ob die Magnetnadel eher gen Ost oder West zeigte, ließe sich nicht erkennen.

nacht1Vom östlich gelegenen Lessingplatz kommend, hättest du möglicherweise den Eindruck gehabt, auf den Bug eines Bootes zuzugehen, eines schmalen Schiffes, das in der offenen Mitte zum Einstieg einlädt. Das aber auch mittschiffs auseinandergebrochen sein könnte: Ein zu volles Bootes, das mitten im gleichgültigen Strom der Vorbeieilenden kentert.

Von der Parkseite betrachtet glich CAST eher einem Bollwerk, jedoch verlockte die Lücke in der Palisade zur Erkundung. Und beim Verweilen in einem der beiden Räume hättest du dich abwechselnd geborgen oder vergittert vorkommen können, oder als Späher (ich sehe was, was mich nicht sieht).

Den Formwandlungen entsprechend veränderten sich ständig Licht und Schatten in und um CAST. Und so wäre dies unspektakulärste Lichtparcours-Objekt vielleicht für dich das Interessante gewesen mit seinen Übergängen von Hell zu Dunkel, mit seinen Kontrasten und Schattenfarben, die sich, beeinflusst durch äußere Faktoren wie Tageszeit und Lichtverhältnisse, ständig veränderten und nachts in Bewegung gerieten. Noch Tage nach seinem Abbau, ist ein Abdruck der Form geblieben, umspielt von Licht und Schatten.

* Skuggi, das isländische Wort für Schatten, es ist auch ein Vorname, der allerdings aus der Mode gekommen ist.

Vom Kronkorkenjagen und Tischesammeln

bv1Kultur als Gegenbegriff zu Natur bezeichnet wertungsfrei all das, was sich der Mensch geschaffen hat: Vom Pflug über den Tisch bis hin zum Kulturbeutel und anderen Reiseutensilien.

Der moderne Kulturmensch hat sich weit vom Jäger- und Sammlerdasein entfernt, und solch ehrwürdige Berufe wie Wilderer oder Kräuterhexe sind nahezu ausgestorben. Dennoch hat sich in irgendeinem Hinterstübchen seines Hirns der Trieb erhalten, zu sammeln und zu jagen und manch einen führt diese Leidenschaft rund um den Globus.

Es gibt Menschen, die wollen Abbilder möglichst aller Landstriche des Planeten Erde auf ihren Speichermedien versammeln,  andere jagen quer über die Weltmeere virtuellen Werten nach, und dann gibt es die, die auf ihren Wanderungen und Reisen reale Dinge einsacken, die gemeinhin als wertlos gelten.

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Kronkorken (Dellusafnið in Flateyri)

Die Wortesammlerin, die über den Atlantik fliegt, um in einer Bibliothek ein verstaubtes, der Vergessenheit anheimgefallenes Buch zu lesen, das nur in diesem einen einzigen Exemplar existiert, gilt als verrückt, ebenso jener Kronenjäger, der Fernreisen nur deswegen unternimmt, um seiner Sammlung von Kronkorken ein weiteres Exemplar hinzufügen zu können.

Auch ich habe jüngst einen Kronkorken von einer Reise mitgebracht und ihn auf meinen Kronkorkenuntersetzer gelegt, den ukrainische Freunde vor Jahren gebastelt und mir als Geschenk überreicht hatten. Der Verschluss zierte einst die Vermonter Bierflasche der Marke „The Long Trail“ und zeigt auf rotem Grund die Silhouette eines ausschreitenden Wanderers mit langem Stab. Kein Wunder also, dass mein Auge automatisch nach diesem Motiv in der Kronkorkensammlung des Dellusafnið in Flateyri suchte. Das sogenannte Nonsense-Museum in dem kleinen Fischerort in den isländischen Westfjorden widmet sich verschiedenen Formen der Sammelleidenschaft.

Ist Sammeln wirklich etwas Sinnloses, nur weil das Sammelgut nicht dem Lebensunterhalt dient, sondern andere Gelüste befriedigt, ähnlich jener, die beim Puzzeln im Spiele sind? Sammeln gehört zu den Vorgängen, die sich (in den wohlhabenden Regionen der Erde) von Arbeit in Spiel verwandelt haben, ein Spiel mit meist kleinen Kulturdingen.

Ein Kronkorken hat nahezu keinen materiellen Wert. Einmal entfernt verschließt er die Flasche nicht mehr richtig und wird daher achtlos vermüllt. In der Wegwerfgesellschaft erscheint das Sammeln solch vermeintlich wertloser Gegenstände als unsinnig. Gesellschaftlich anerkannt ist allerdings das Sammeln von Kronkorken, wenn es bedürftigen Institutionen zu Gute kommt. Auch ich sammle Kronkorken für das Till-Eulenspiegel-Museum in Schöppenstedt, dessen Mitarbeiter das säckeweise eingehende 21-zackige Blech auf dem Altmetallmarkt verkaufen – eine durchaus beachtliche Finanzspritze für das kleine Museum.

Der Isländer Ómar Smári ist, so heißt es im Begleittext des Dellusafnið, in der Welt herumgefahren, um Kronkorken zu sammeln. Ich sehe ihn vor mir, wie er vorsichtig den Verschluss von einer Flasche löst, um ihn nicht zu beschädigen. Dann besieht er sich das neu erworbene Prachtstück mit großen Behagen, während er den freigegebenen Inhalt der Flasche zwar trinkt, ihm aber nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie dem neuen Sammlungstück (das freilich ist nur eine Hypothese meinerseits). Die mit dem Erwerb des Kronkorkens verbundene Reise mit all ihren Abenteuern und Mühen macht diesen besonders wertvoll, denn nun ist jeder seiner Zacken mit Erinnerung besetzt und damit unterscheidet er sich grundsätzlich von der seltenen Briefmarke, die sich ein anderer passionierter Sammler bequem per Post ins Haus schicken lässt.

Wer auf einer abgelegenen Insel lebt, hat ohnehin das Bedürfnis zu reisen, und so haben fast alle isländischen Sammler, die dem Dellusafnið ihre Schätze übereignet haben, auf ihren Reisen gesammelt oder wie der Kronensammler zielgerichtete Sammlungsexkursionen unternommen. Doch warum hörten sie auf zu sammeln? Heimischer Platzmangel und die Museumsgründung haben diese schwere Entscheidung sicherlich befördert. Doch da gibt es auch Valgerður, die befand, 300 Sammlungsstücke seien genug. Sie sammelte Affen.

Das Sammeln von Naturgütern ist ein begrenztes Unternehmen. Sicherlich, Sack, Korb oder Beutel, was auch immer zur Aufnahme des Sammlungsgutes verwendet wird, muss gut gefüllt sein, bevor Mensch mit dem Sammeln aufhört und seine Schritte heimwärts wendet. Das Volumen des Behälters setzt dem Sammeltrieb Grenzen, doch wie bestimmt sich die Grenze beim Sammeln von menschengemachten Affennachbildungen?

Das Sammeln von Naturgütern hat immer mit Bewegung zu tun. Ob Ähren oder Beeren – Mensch schreitet vorwärts, der Blick schweift umher, Mensch bückt sich, greift zu, steckt ein, richtet sich wieder auf, geht weiter …

Briefmarken sind selbstreisendes Sammlungsgut und kommen per Post. Der Sammler muss sie nur einem Umschlag entnehmen oder von einem solchen ablösen. Bücher, Süßwaren oder Schuhe brauchen zum Schutz größere Umschläge, und werden meist in Pappschachteln versandt.

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Kugelschreiber (Dellusafnið in Flateyri)

Statt Briefmarken solche Schachteln zu sammeln, ist wegen des hohen Platzbedarfs keine sehr gute Idee. Menschen, die keine Schachtel wegwerfen können, gehören meist zur Spezies der Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Sammler, die oft fälschlicherweise als Messies bezeichnet werden. Dabei wollen sie die Schachteln gar nicht sammeln, sondern wieder befüllt an andere potentielle Schachtelfreunde verschicken, doch ach, die versammelten Schachteln haben nie die passende Größe für den vorgesehenen Inhalt.

Auch wenn ich mich gerne über den eigenen oder fremden Schachtelsammeltrieb lustig mache, möchte ich aber folgendes zu bedenken geben: Alltagsgegenstände und Plunder im Überfluss gibt es in anderen Regionen des Planeten Erde nicht; nicht überall herrscht die vermeintliche „Kultur“ des Wegwerfens. Und es gibt Millionen von „Kulturbanausen“, die die Wegwerf-Dinge für einen Hungerlohn herstellen, ohne sie sich jemals leisten zu können. Oder die sich überlebenshalber die Abfälle der Kulturbeutel-Besitzer auf Müllkippen zusammensammeln müssen.

Auf der entlegenen Nordmeerinsel Island, wo die meisten Gebrauchsgüter importiert werden müssen und an hauptstadtfernen Orten nicht so leicht zu beschaffen sind, achten die Menschen die Dinge mehr als auf dem europäischen Festland und sind eher einem pragmatischen Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Prinzip verpflichtet. Dies gilt freilich nicht für die passionierten Sammler, denn diese benutzen ihre Sammlungsgegenstände nicht und wollen auch nicht, dass sie benutzt werden. So schaut der Besucher des Dellusafnið je nach Suchtpotential begehrlich auf die hinter Glas verborgenen vollen Schnapsfläschchen oder die prallen Zuckertütchen und -Würfelchen. Manch einer würde gerne ausprobieren, wie sich seine Zigarette an Heuschrecken, Penissen, Fahrrädern, Zangen oder gar Feuerlöschern entzünden ließe, muss sich jedoch mit dem Anblick all dieser verkleideten Feuerspender begnügen.

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Feuerzeuge (Dellusafnið in Flateyri)

Selbst den skurrilsten Dingen, die sich der kulturbeflissene Mensch ersonnen hat, ist eine gewisse Funktionalität nicht abzusprechen. So besitzt auch ein als Delfin verkleidetes Feuerzeug eine Standfläche, damit es auf einem Tisch abgestellt werden kann. Die Funktion des Tisches wiederum besteht hauptsächlich darin, Gegenstände, die ein sitzender Mensch benutzen möchte, aufzunehmen und in einer waagrechten Position zu halten. Nun könnte es ja egal sein, an welchem Tisch der Mensch sein Frühstück verzehrt, aber mitnichten: Neben Form, Farbe, Größe und Erhaltungszustand (alles Faktoren, die zumindest teilweise mit Funktionalität zu tun haben) spielt gänzlich Unfunktionales, nämlich Emotion, eine unerhört große Rolle.

Neulich sagte jemanden über einen alten, abgenutzten Tisch, für den sicherlich niemand mehr einen Pfifferling gegeben hätte: Diesen Tisch kann ich nicht weggeben oder gar wegschmeißen, denn daran habe ich schon als Kind gesessen und gegessen. Unvergessliche Erinnerungen haben sich in die Rillen des Tisches gegraben, das macht ihn für einen einzigen Menschen so unersetzbar wertvoll.

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Zuckerstücke (Dellusafnið in Flateyri)

Erinnert er sich dann aller Tische, die ihm im Laufe eines ganzen Lebens unter sich Zuflucht, an sich Sättigung und auf sich sicheren Stand gewährt haben, kommt sicherlich eine beachtliche Anzahl zustande. Doch ihre Sammlung würde die Dimensionen jeglicher Behausung sprengen und selbst ein geräumiges Museum vor Probleme stellen. So stehen viele einzigartige und unersetzliche Tische einzig in Gedächtnisräumen herum, wo sie unverstaubt vor sich hindämmern können.

Sammlung bedeutet auch: Konzentration auf das Wesentliche. Und ganz versammelt bin ich erst, wenn ich nicht Kulturgüter wie Worte oder Schachteln sammele, sondern das, was die Natur mir pur anbietet. Auch beim Sammeln von Affen oder Kronkorken wäre mir nie aufgefallen, was ich mehr als sechs Jahrzehnte lang falsch angefasst habe. Aber als ich im vergangenen Herbst ein paar Kilometer vom Dellusafnið entfernt an einem Berghang des Önundarfjordes saß, den wiederkäuenden Schafen zusah und Blaubeeren sammelte, bemerkte ich plötzlich, dass meine Linke blutrot vom Beerensaft war. Ich, die vermeintliche Rechtshänderin, pflückte die Beeren mit der linken Hand ab. Als ich versuchte, mit der Rechten zu zupfen, fühlte ich Unbehagen in mir aufsteigen. Und bei weiteren Sammlungen kamen immer mehr Erinnerungen („Nimm den Löffel in die rechte Hand“, „Gib das richtige Händchen“) hoch, die die frühe, konsequente Umerziehung zur Benutzung der „Kultur“hand belegen. Ich werde wohl nicht mehr lernen, mit meiner Naturhand zu schreiben – aber Sammeln, das tu ich fortan bewusst mit Links.

Ziergeschwätz, Ziergewächs, Schafe und Dichter

bv1Als der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson noch ein – wie heißt es so schön – „unbeschriebenes Blatt“ war, arbeitete er in der Fischindustrie, um das Geld für den Druck seines ersten Buches zusammenzubringen. Als er schließlich den Arbeitskollegen stolz den selbstverlegten Gedichtband zeigte – kurze Gedichte, jedes auf seiner eigenen Seite – sprach einer aus, was alle dachten: „Platzverschwendung!“.

Wenn Worte Fische wären, wenn sich ihr Wert danach bemäße, wie viele sich im Netz befinden, wenn es dabei um lang und breit ginge, und wie leicht sie sich zerlegen ließen, trockene Worte, gesalzene, aalglatte und solche, die nur zur Zierde eingefangen werden …

01skrudurDas isländische Wort skrúðmælgi bedeutet „Zier-Geschwätz“. Skrúð (Pracht, Zier, Ornament) findet sich auch im Wort skrúðgarður, Ziergarten. Vor über 100 Jahren schuf der Schulvorsteher von Núpi im Dýrafjörður mit seinen Schülern eine Gartenanlage, die noch heute besteht. Skrúður, wie er sie nannte, war ursprünglich mehr ein Nutzgarten als ein Ziergarten. Hier findet sich heute unter anderem auch ein Kraut, das in den 1920er Jahren als Zierpflanze nach Island kam. Mit seinen feinen weißen Blütendolden und dem üppigen Blattwerk bietet skogarkerfill, der Wiesenkerbel, einen angenehmen Anblick, hat sich aber inzwischen als wahre Landplage erwiesen, denn er verbreitet sich explosionsartig und laugt die Böden aus.

03Kann man den aus den Ziergärten ausgebrochenen Kerbel mit Ziergeschwätz bekämpfen? Jein.

Die Gemeindeverwaltung Ísafjarðarbær kündigte kürzlich ein Experiment zur „ökologischer und nachhaltiger Vernichtung von Kerbel“ an unter Hinweis, dies sei die Formulierung in skrúðmælgi.

Nun ist blumiges Geschwätz allerorts nötig, wenn es gilt, Projektfördermittel zu ergattern oder/und einem Vorhaben einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Jedoch in einer schönen Form der Selbstironie folgte der ziergeschwätzigen Formulierung sogleich die mannamál-Fassung. Mannamál heißt menschliche Sprache und hat als Gegensatz zu skrúðmælgi die BedeutungKlartext“ oder, was hier besser passt: „in unverblümter Sprache“. In dieser entblättert sich das Projekt als vielblättrige Aufgabe für zwei Mutterschafe und ihrer vier Sprösslinge.

Ein paar Worte zum historischen Kontext: Einst bevölkerten unzählige Schafe auch kleine und größere isländische Orte, sicherlich oft zum Verdruss der Bewohner, die Wert auf Zier- und Nutzgärten legten. Schafe sind Feinschmecker und lieben die kulinarische Abwechslung, sie haben sicherlich dafür gesorgt, dass sich Zierpflanzen nicht zu sehr verbreiteten. Jedoch scheint das Wissen, ob Schafe besonders gerne Kerbel fressen und wenn, wie viel, seit Reduzierung der Schafbestände und Einführung der vor jedem Ortseingang in die Straße eingelassenen Tiersperren (Viehgatter bzw. rimlahlið genannt) verlorengegangen zu sein.

06Nun sind die hornlose dunkelwollige Svarta-Hrönn und die hellhaarige gehörnte Ljúfa auf Probe bei der Gemeinde angestellt, um im Dorf Suðureyri, das besonderen Wert auf seine nachhaltig betriebene Fischerei legt, den Kerbel abzuarbeiten und dabei ihre vier Lämmlein anzulernen. Zu diesem Zwecke wurde ein kerbelreiches Areal zwischen zwei Häusern am Ende der Hauptstraße mit doppeltem Elektrozaun umrahmt und ein Informationsschild aufgestellt. Die Mutterschafe machten sich anfänglich entzückt an die Arbeit, während die Lämmlein den herben Kerbelgeschmack sozusagen mit der Muttermilch aufsogen.

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Das abzufressende Areal umfasst auch das Denkmal für den Dichter Magnús Hj. Magnússon, der hier in einer Kate am Abhang über dem Ort seine letzten Lebensjahre verbracht und der Nachwelt unter anderem 4.000 Tagebuchseiten aus fast einem Vierteljahrhundert hinterlassen hat. Er hatte das Häuschen, das er zwei Jahre vor seinem frühen Tod erwarb, Þröm (Ecke, Kante) getauft und daher nannte man ihn Skáldið á Þröm, den Dichter an der Kante.

Die Kindheit des 1873 geborenen Magnús war durch Krankheit und grausame Behandlung geprägt. Er bezog viele Jahre lang Armenunterstützung, verfasste Auftrags-Liebesgedichte, gereimte und ungereimte Nachrufe und Eingaben, arbeitete als Tagelöhner in der Fischverarbeitung und als Wanderlehrer. Die Verführung einer 14-jährigen Schülerin brachte ihn 1911 für ein Jahr ins Gefängnis nach Reykjavík. Vier der sechs Kinder, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte, starben früh.

Die über 23 Jahre geführten täglichen Tagebucheinträge, die immer mit einer kurzen Wetterbeschreibung beginnen, zeigen, wie eng vertraut der Außenseiter als Liebesbote, Nachrufer und Geschichtentransporteur mit den Geschicken seiner Mitmenschen war. Neben Einblicken in das Leben, Denken und Dichten von Magnús bieten die Tagebücher daher auch mannigfache sozialgeschichtliche Informationen.

Magnús schreibt in einem 1914 verfassten Lebensrückblick, vom neunten Lebensjahr bis 1896 habe er das Gefühl gehabt, überall offenbare sich ihm das Antlitz Gottes. „Mir war, als höre ich die ganze Natur einstimmen in den Klang der Offenbarung des Göttlichen und ich sei auch inmitten dieser Stimmenflut. Mir schien mein Ich so klein in diesem himmlischen Glanz.“

Aus diesen knappen Zeilen macht Halldór Laxness eine blumige, wenn nicht gar eine etwas ziergeschwätzige Erweckungsszene, die sich allerdings mit der Aussage, dass sich das Göttliche nicht über Worte offenbart, selbst wieder zurücknimmt:

„Niemand auf dem Hof ahnte, dass der Junge in direkter Verbindung zu Gott stand, und niemand auf dem Hof hätte es verstanden. Alle auf dem Hof hörten weiter das Wort Gottes aus einem Buch. Nur er wusste, dass diese Menschen Gott nie verstehen würden, selbst wenn sie tausend Jahre lang sein Wort hörten, und Gott würde vermutlich kaum darauf verfallen, sie an sein Herz zu nehmen.“

Magnús, dem Ziergeschwätzigkeit wohl ebenso fremd war wie laxnessche Ironie, hat die Passage über den Klang der Offenbarung des Göttlichen in seinen Lebenslauf eingefügt, um die Entstehung seines Vierzeilers zu erklären, der da lautet:

„Þegar sálar augum á
alheims lít ég búa.
Ó, hvað lítill er ég þá
í öllum þessum grúa.“

(Wenn ich mit den Augen der Seele auf des Weltalls Bewohner sehe, oh, wie winzig bin ich da in diesem ganzen Schwarm)

Der Klang der Offenbarung des Göttlichen hat nach Laxness, der den ersten Teil seiner Weltlicht-Tetralogie danach benannt hat, auch den Künstler Ragnar Kjartansson und den Komponisten Kjartan Sveinsson zu einer gleichnamigen Produktion inspiriert, die 2014 an der Volksbühne Berlin Premiere hatte. Wer heute Laxness‘ Weltlicht liest, ahnt nicht, dass der „Ljósvikingur“ tatsächlich existierte. Laxness hat nicht verheimlicht, Magnús zum Vorbild für die Romanfigur Ólafur Kárason genommen zu haben, was für seine Zeitgenossen ja auch offensichtlich war. Doch in welchem Umfang er aus dessen Aufzeichnungen schöpfte, lassen erst die von Sigurður Gylfi Magnússon 1998 unter dem Titel Kraftbirtingarhljómur Guðdómins (Klang der Offenbarung des Göttlichen) veröffentlichten Tagebuchauszüge von Magnús Hj. Magnússon erkennen.

In den Westfjorden entstand 2012 ein Theaterstück über Magnús, und sicherlich ist auch sein Todestag, der sich am 30. Dezember 2016 zum einhundertsten Male jährt, ein Anlass, dort seinem Werk wieder zu begegnen.

05Erst einmal aber sind die verwitterten Stufen hinauf zum Magnús-Denkmal für Menschen gesperrt. Da Schafe gern menschliche Bauten und Straßen nutzen, erkundeten Svarta-Hrönn, Ljúfa und ihre Sprösslinge das steinreiche Monument sofort; inzwischen dient ihnen das Fundament als Terrasse, Aussichtsplattform und Schattenspender.

Doch den Kerbel, so schien es, hatten sie wohl gründlich satt. Bei näherem Hinsehen stellte eine botanisch versierte Person fest, dass die Schafe den herben Wiesenkerbel (skógarkerfill) tatsächlich ganz abgefressen haben, die ähnlich aussehende Süßdolde (spánarkerfill) aber nicht anrühren. Dieses, auch Spanierkerbel genannte Kräutergartengewächs, das nach Anis duftende Blütendolden und üppigeres Blattwerk hat, breitet sich zusammen mit dem Wiesenkerbel in Suðureyri und anderen Orten der Westfjorde ungehindert aus.

Von Süßdolden und anderem süßen Zierzeug lassen sich Ljúfa und Svarta-Hrönn offensichtlich nicht beeindrucken, sind sie es doch gewohnt, ihre Lämmer hinauf in die Berge zu führen, wo die Vegetation karg, aber herbwürzig ist. Magnús, hat bei seinen vielen Gängen von Fjord zu Fjord (damals führten nur Pfade über die Bergpässe) auch botanische Studien betrieben und 43 verschiedene Kräuter gezählt.

Der mit 43 Jahren verstorbene Skáldið á Þröm hätte sich kaum darum geschert, welches Schaf  heutzutage am Hang herumklettert, wenn nur kein Schurke (illmenni) die Blume des Glücks ausrottet (upprætir hamingjublóms). Doch wo wächst sie?

„Wer sie entdeckt“, schreibt Halldór Laxness in der oft zitierten Passage über die schönste Blume, die an einem verborgenen Ort lebt, „für den gibt es keine andere Blume mehr. Den ganzen Tag denkt man an sie. Wenn man schläft, träumt man von ihr. Man stirbt mit ihrem Namen auf den Lippen.“ (Weltlicht IV, Kap. 22).

02Den Dichterpfaden, die ins blumige Reich der Metaphern führen, folgen Ljúfa und Svarta-Hrönn nicht. Sie träumen allenfalls davon, befreit von Elektrozäunen, Ziergeschwätz und -gewächs 43 namenlose Bergkräuter zu verkosten, die schönsten auf den Lippen zergehen zu lassen und genüsslich wiederzukäuen.

Isländische Sommer-Präliminarien

bv1Die große Frage, die sich in Island alle dutzend Monate stellt: Wann hört der Winter auf, und wenn, was dann? Für den Frühling ist bekanntlich in nördlichen Breiten keine Zeit, doch der Sommer, der eigentlich unmittelbar auf den Winter folgen sollte, ziert sich meist und muss aufwendig angelockt werden.

Zuallererst wird den Wettergöttern ein Wellblechdach geopfert, um sie gnädiger zu stimmen. Der mindestens 48 Stunden exponiert dargebotene weiße Eimer ist eine spezielle Gabe an Njördr, den allgegenwärtigen Gott der Winde.

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Wenn diese Opfergaben nicht ausreichen, ist der Abfall an der Reihe, für manchen Isländer eine schmerzhafte Trennung, die er mit der Beschwörungsformel „Aldrei komi þetta fína ferðaveður fyrir ruslatunnur“ abzuwenden sucht.

Da das Mülltonnen-Reisewetter dennoch naht, kommt der Wasserzauber, vatnsgaldur genannt, zur Anwendung. Es ist ein doppelter Gegenzauber. Eine Wasserwelle, verfertigt von der angesehensten Friseurmeisterin der Stadt soll den Südwind besänftigen.

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Der Wassertanz Kneippivaki, ausgeführt von den mutigsten Kindern der Hágrunnskóli, möge den Nordwind abhalten.

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Traurigerweise hat nie eine Evaluierung dieser Vorsorgemaßnahme stattgefunden. Da sich die Qualitätsmanagerin Sofía Vindsdóttir seit fünf Jahren im Mutterschaftsurlaub befindet, ist bis heute unklar, ob die Intervention auch tatsächlich die gewünschten Ergebnisse bzw. Wirkungen produzieren konnte.

Kurz vor Sommerausbruch holt die Ortsfeuerwehr in selbstlosem Einsatz die letzten Vorjahresflechten (das für den Export bestimmte „isländische Moos“) von den halbwegs schneefreien Berghängen.

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Um den Winter gänzlich zu vertreiben, wird nun dem ausgefeimtesten der 13 Jólasveinar („Weihnachtskerle“) noch einmal die Präsidentschaft über das Traumeisland angetragen und sofort wieder entzogen. Dieses auf den ersten Blick sinnlos erscheinende Ritual schafft die willkommene Gelegenheit, etwa hundertmal takk fyrir veturinn zu sagen, also allen und jedem für den Winter mitsamt Schneewehen, Frostbeulen und Glatteis zu danken.

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Die Isländer waren noch nie in der Lage Gebrauchsanleitungen zu studieren, da sie lieber Gebrauchslyrik lesen. So ist es ihnen nie gelungen, Rentiere zu zähmen und invasive Pflanzen nach Vorschrift in Vasen zu halten. Und nun sind es gerade solche Grünlinge, die noch vor Verschwinden des Winters ihr keckes Haupt erheben. Mancherorts ist man daher dazu übergegangen, in der Græn vika  (der entscheidenden Woche, um den Sommer zu ködern) die Rasenflächen zu shampoonieren, um das Wachstum der aus den Vasen geratenen Kräuter zu stoppen.

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Weitere Maßnahmen werden kurzfristig geplant.

Anm.:

Aldrei komi þetta fína ferðaveður fyrir ruslatunnur: Möge dieses feine Reisewetter für Mülltonnen niemals kommen!

Kneippvaki: abgeleitet von Vikivaki, einem Ringtanz aus Wikingerzeiten

Takk fyrir veturinn: Danke für den Winter

Græn vika: Grüne Woche

Oumi Khadischa

troll-imadeWEB-1Oumi Khadischa war es immer eine Lust, in Pariser Geschäften den für sie passenden Schal auszusuchen; modisch genug hatte er zu sein, um ihre Weltoffenheit preiszugeben, jedoch in Farben gehalten, die ihrer tiefen Verbundenheit mit der Natur nicht widersprachen. In seiner Aufmachung und Ornamentik war dabei auf den Status ihres Stammes genauso zu achten, wie auf die Stellung, die sie innehatte. Seit sie den Titel Haddscha sich erwarb, bevorzugte sie als Zeichen ihrer Würde nur noch jenen weißen Schal, der nur einer Haddscha zustand.

Eines Tages, sie wollte nach ein paar Jahren wieder Europa besuchen, bat sie darum, ihr die für Besuche in Deutschland erforderliche Bürgschaftserklärung zuzusenden, da sie noch einmal reisen möchte, um die neuen Enkelkinder zu sehen, bevor sie sterbe.

Im Zuge von 9/11 hatte jedoch das deutsche Auswärtige Amt mit der tunesischen Regierung vereinbart, dass Tunesier, die ein Touristenvisa bei der deutschen Botschaft in Tunis beantragen, nun persönlich in der dortigen Visa-Abteilung zu erscheinen hätten, ungeachtet des Alters der Person, und selbst ihre Papiere vorzulegen haben. Weibliche Besucher dürften dabei im Gegensatz zu früherer Praxis die deutsche Botschaft nur noch ohne Kopfbedeckung betreten.

So machte sich Oumi Khadischa, schon von ihrer schweren Krankheit gezeichnet, notgedrungen selbst auf den Weg nach Tunis, um sich in die Schlange der Antragsteller einzureihen, die bereits lange vor Sonnenaufgang vor dem Eingang der deutschen Visa-Abteilung ausharrten, um innerhalb der Öffnungszeiten noch ihren Antrag einreichen zu können, und nicht nach vergeblichem stundenlangen Warten vor dann verschlossenen Türen unverrichteter Dinge wieder heimkehren zu müssen.  

Als sie nach mehreren Stunden endlich vor dem am Eingang wachhabenden Polizeibeamten stand, forderte dieser sie weisungsgemäß auf, ihren Schal abzulegen, da das Betreten der Visa-Abteilung nur ohne Kopfbedeckung erlaubt sei. Oumi Khadischa fragte ihn, ob er denn wisse, mit wem er da spreche, und ob man ihm als Kind nicht den Respekt beigebracht hätte, den man alten Frauen schuldig sei. Das brachte den jungen Polizeibeamten in arge Verlegenheit, war er doch nur ein junger Bursche, sie hingegen eine alte Frau, noch dazu eine Haddscha, welcher er damit bereits aus zwei Gründen Respekt entgegenzubringen hatte; auch erregte der Disput bereits die Aufmerksamkeit der umstehenden Neugierigen.

In seiner Not erklärte er Oumi Khadischa, dass er seinen Job verlieren würde, sollte er sie mit dem Schal in die deutsche Botschaft lassen. Da nahm sie plötzlich den Schal ab, drückte diesen dem jungen Burschen in die Hand, und trug ihm auf, ihren Schal solange in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, auf ihn sorgfältigst aufzupassen, und ihn ja nicht aus den Händen zu geben, bis sie aus der deutschen Botschaft zurückgekehrt sei.

Und ließ den jungen Mann mit hochrotem Kopf zurück, auf das Peinlichste vor allen Umstehenden bloßgestellt; ein stattlicher junger Kerl in Uniform, der Öffentlichkeit preisgegeben, ausgerechnet mit einem Damenschal in seiner Hand, noch dazu mit einem Schal einer Haddscha, als respektabler Polizist, als Respektsperson, nun von allen Wartenden grinsend begafft.

Als Oumi Khadischa aus der Visa-Abteilung zurückkehrte, nahm sie ihren Schal wieder an sich, und fragte den Polizisten, ob er nicht genug Anstand hätte, da er sich bei ihr nicht bedanke; um dann dem Beamten, der nur verblüfft und fragend in seiner offensichtlichen Betretenheit die alte Frau anstarrte, zu erklären, dass sie ihm immerhin gerade seinen Arbeitsplatz gerettet habe.

Sagte es, und verschwand in der wartenden Menge; durch die breite Gasse, die ihr die Wartenden respektvoll anboten.

Landshornaflakkari

troll-imadeWEB-1Der kleine Besucher am Ufer des kleinen Baches hatte sich entschieden: jener ist gut beraten, der Halluzinationen von Wirklichem zu unterscheiden vermag. Es wird daher nur ein Trugbild bleiben, denn immerhin hatte dieser Baum dort sogar den Blitzschlag überlebt, benötigte danach nur noch den verbliebenen Rest an seiner Rinde, um jedes Jahr die grünen Blätter seiner verkohlten Äste mit Nötigem zu versorgen.

Im Alter von zwölf Jahren, als ihn Jahre später seine Eltern bei ihrer Reise auf den Kontinent mitnahmen, was ihn zur deutsch-tschechischen Grenze führte, die damals noch der Eiserne Vorhang genannt, stand er an diesem Bahnhof in Bayrisch Eisenstein, und tastete mit seinen Augen verständnislos immer wieder all diese Dinge ab, welche die Menschen offensichtlich für notwendig hielten. Denn in einem solchen Alter hat man noch davon auszugehen, dass Erwachsene nur jenes tun, was auch unbedingt und zwingend notwendig sei. Ist doch alles, was in diesem Alter von Erwachsenen erfahrbar, Ausdruck vorhandener Notwendigkeiten, welche als solche die Welt des Möglichen, die noch die Welt eines Zwölfjährigen ausmache, in ihre Schranken verwies.

Er konnte sich daher noch an die kleine Erzählung von Sjón und Halldór Baldursson  in „Sagan af húfunni fínu“ erinnern:

Ein Junge saß auf einem Stein.
Sie lebten auf dem Land, der Junge und der Stein.
Eine kleine Familie aus der Stadt ging vorbei, Vater und Mutter mit ihrem Sohn im Teenager-Alter.
Sie standen vor dem Jungen auf dem Stein und starren ihn an.
Der Junge war nicht einverstanden, dass man ihn anstarrte, hatte man ihm doch gesagt, dass Anstarren unhöflich sei, und so blickte er auf seine Beine.
„Ich durfte nie auf einem Stein sitzen“, sagte der Vater.
„Steine verschmutzen die Hosen der Menschen, und daher ist es nicht gut, auf ihnen zu sitzen,“ sagte die Mutter.
„Er wird doppelt erleichtert auf dem Stein sitzen“, sagte der Sohn, der ein gebildeter Teenager war.

Er blickte fragend zu dem Jungen auf dem Stein.
„Nicht wahr?“

Nun stand dieser Schüler vor dieser breiten kahlen Schneise, welche den Wald in zwei Teile zerschnitt, vor den hohen Gitterzäunen, die den Zutritt zu einem breiten Streifen verhindern sollten, wobei nicht ersichtlich war, welchem Zweck dieses dienen solle. War doch auf diesem breiten Streifen nichts Schützenswertes vorhanden, kein Strauch, kein Baum, und auch keine Wiese, die in deutschen Städten Rasen genannt, und der so schützenswert war, dass in den Städten vor jedem Hausausgang ein Schild am Rand dieser Rasenflächen angebracht werden musste, auf dem zu lesen war: „Betreten des Rasens verboten. Eltern haften für ihre Kinder“.

Die Sicht auf Dinge, die sich einem zeigen, verändert sich im Laufe der Jahre. So entpuppt sich zum Beispiel ein reißender Fluss von damals, in welchen einer einst unter Ansammlung aller Kräfte große Steine geworfen hatte, um auf diesen das andere Ufer erreichen zu können, im erwachsenen Alter als kleiner, schmaler Bach, der nur einen Meter breit, dessen Wasser friedlich vor sich hin murmelt, und dessen Wasserstand nicht einmal bis zu den Knöcheln reicht.

Der zwölfjährige Junge stand am Bahnhof in Bayrisch Eisenstein, und tastete daher mit seinen Augen verständnislos immer wieder diese hohen Drahtzäune ab. Diese breite kahle Schneise, welche den Wald in zwei Teile zerschnitt, und fragte sich, wie wohl einem Tier dort draußen im Wald zumute sei, welches unvermittelt plötzlich diesen Zaun entdeckt, der ihm den Weg verwehrt, zu jenen Futterplätzen dort drüben, die in der Vergangenheit immer aufgesucht werden konnten. Wobei unwichtig war, ob das Tier nun auf dieser Seite, oder auf jener Seite vor dem Zaun stand, da sich nur in ein und derselben Situation befindend.

Erst später, im Erwachsenenalter, fand der Junge von damals endlich die Antwort auf die Frage, wozu die Erwachsenen Notwendigkeiten aufstellen, welche als solche die Welt des Möglichen in ihre Schranken weisen. Die Antwort fand sich in einem Satz, den der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt seinem Romulus in den Mund legte: der Staat bediene sich des Wortes Vaterland immer dann, wenn er auf Massenmord aus ist.

So wurde der Junge zu jenem, was auf Island ein Landshornaflakkari genannt. Ein Landeseckenlandstreicher, von dem sich die Isländer erzählen, er ginge in der eigenen Spucke.

Ein Pendler zwischen den Kulturen, ein Reisender, der einst in jedem isländischen Haus auch ein höchst willkommener Gast war, um mit ihm Gesinnung auszutauschen. Denn der Unterschied zwischen Reisen und Verreisen besteht darin, dass das eine synonym zu erfahren, und das andere synonym zu Zeitvertreib, was nicht dasselbe ist. Beides bietet Erholung, das eine vom Irrtum, und vom anderen werden sicher Andere zu erzählen wissen. Sind doch nicht alle Sichten auf Dinge, die sich einem im Verlauf des Lebens zeigten, auch solche, die sich im Lauf der Jahre auch veränderten.

Und so kennt der Besucher von damals bis heute nicht die Antwort auf die Frage, welcher Nationalität er denn angehöre.

Unbenannt-20War er es doch, der damals diese Steine in diesen reißenden Fluss warf, da auf der gegenüberliegenden Seite sich sein Zuhause befand: ein riesiger Baum, den einmal ein Blitz getroffen hatte. Der Baumstamm war hohl, seine Innenseite schwarz und verkohlt, und unten war auf einer Seite ein breiter Spalt, ein Einlass, so dass es möglich war, in diesen Baumstamm hineinzugehen. Blickte der Fünfjährige dann, im Baumstamm stehend, nach oben, so sah er all die schwarzen Äste der Baumkrone, die wieder ein grünes Blätterkleid trugen. Dieser Baum war sein bester Freund, und auf die lächerliche Frage, welcher Nationalität er denn sei, würde er – der Wahrheit die Ehre gebend – antworten: dieselbe wie dieser Baum.

Übersetzung: B. Pangerl

isLandshornaflakkari

Wunsch, Möwe zu werden

Einöde

Der Anblick einer Möwenkolonie an einer Steilwand, wo auf jeweils wenigen Quadratzentimeter in „einer Andeutung von Nest“ eine Gattung dicht an dicht ihre Jungen aufzog, öffnete der Nichtmöwe Ulrich Schacht den schonungslosen Blick auf die eigene Gattung, und sie notierte für ihre Novelle „Grimsey“:

Wesen, denen der Mensch im Zuge einer hyperthrophen Entwicklung alles abgesprochen hatte, was nicht auf eine rein biologische Funktionalität hinauslief, waren sichtbar in Sorge umeinander, riefen sich an, erkannten einander.“

Was die Nichtmöwe zwar zu dem 2.500 Jahre alten Satz „So ist der natürliche Instinkt aller Wesen, die Seele haben“ von Demokrit führte, nicht aber zur Einsicht in ihr eigenes Selbst, wie seine Hetze gegen Menschen belegt, die um die Andeutung eines Nestes in seiner Kolonie betteln, da sie sonst ermordet oder versklavt werden würden.

Dieser Satz von Demokrit ist allein schon deshalb mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden, da einer Gattung überliefert, die zwar aus nachvollziehbaren Gründen heraus die Existenz einer Seele bei der Gattung Mensch in Abrede stellt, erst recht bei Nichtmenschen, nicht aber die Vorstellung aufzugeben gewillt ist, es müsse sich bei Depressionen um seelische Störungen handeln, und den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch dadurch elegant umschifft, indem sie das Wort im 20. Jahrhundert durch das Wort Psyche ersetzte, um nicht entlarvt zu werden. Was der Gattung als Nebeneffekt den unschätzbaren Vorteil brachte, das Symptom – sobald aufgetreten – als Krankheit, als affektive Störung ausgeben und der Psychiatrie übergeben zu können. Auf die Frage, aus welchem Grund solches notwendig sei, wird von dieser Gattung auf die Vernunft verwiesen, also dem Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie, einer Deus ex machina, was die Frage bereits per-se in jenen Bereich verweist, der jenseits von Vernunft angesiedelt. Die Ahnung ist daher eine gefährliche, dass es sich bei jenem rapide anwachsenden Teil der Gattung, welcher Depressionen ausgesetzt, sich nur um einen solchen handeln könnte, der noch über Nous verfüge, also der menschlichen Fähigkeit, etwas geistig erfassen zu können; was naheläge, da dieses Symptom ja vorwiegend in wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaften in solchem  Umfang auftritt. Was aber nicht naheliegend sein darf, selbst dann nicht, wenn es sich als begründet herausstelle, da die waltende Gottheit Vernunft dies ja gar nicht erst ermögliche, womit die Ahnung bereits als tätige Unvernunft nachgewiesen.

Und so dürfte nicht verwunderlich sein, dass sich immer noch Menschen auf die Reise begeben. Womit nicht gemeint, dass sich da einer von Ort A nach Ort B begebe, denn es wären damit jene mit einbezogen, die nicht über solchem Tun – als letzten noch verbleibendem Weg – nach Antworten auf drängende Fragen suchen, zu denen Artgenossen nur vorgaben, dass sie über Antworten verfügten, und die daher unbeantwortet blieben. Außenstehenden erscheinen solche, die diesen letzten noch verbleibenden Weg beschreiten, um darüber nach Antworten auf drängende Fragen zu suchen, gerne als Treibende oder Getriebene. Eine Unterstellung, aus Ahnungslosigkeit geboren, fehlt dem Treibenden doch das Ziel, und dem Getriebenen die Freiheit. Jener, der sich von A nach B begibt, als letzten noch verbleibendem Weg, verfügt sowohl über ein Ziel, als auch über eine Freiheit, denn jeder Schritt, wohin er sich auch wendet, bringt ihm sein Ziel näher. Es bringt ihm nicht nur sein Ziel näher, es kann auch gut sein, dass darüber auch die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit erhöht werde, was dazu führen kann, dass bald seine Antworten, fragte ihn einmal einer, für den Fragenden so unverständlich ausfallen könnten, wie vordem die Antworten der anderen, die nicht genügten.

Gut möglich, dass ein auf solche Art und Weise Reisender auf Island auf die Einöde eines anderen Reisenden trifft, auf dessen alleinstehenden Wohnplatz für eine Nacht, irgendwo im Hochland, weitab von bekannten „Trekking-Touren“. Denn er ist nie dort zu finden, wo jeden Tag eine Hundertschaft jeden Morgen ihre Stoppuhren stellt, bevor sie mit Teleskop-Stöcken dem nächsten Etappenziel entgegen hastet, um später vor ehrfürchtigen Zuhörern berichten zu können, sie hätte die Etappe Hrafntinnusker – Álftavatn in nur 3 Stunden geschafft, und es wäre hart gewesen, aber auch schon sowas von hart. Dabei aber vergessen zu erwähnen, dass er somit Teil einer dieser täglichen Hundertschaft war, die – sorgsam erst um sich blickend – ihre Abfälle irgendwo in der Lava vergraben, oder selbst noch diese Mühe scheuen, und Plastikflaschen, Verpackungen, etc. einfach so fallen ließ, das Land ist ja weit und unberührt, und der Wind wird es schon forttragen, aus den Augen der Nachfolgenden entfernen.

Nein, dort war er nicht auffindbar, und es ist zu vermuten, dass er dort auch nie aufgefunden werden wird. Er wüsste längst, so seine Antwort, dass auch diese nur vorgeben, über Antworten zu verfügen, und er suche nicht, was dort nur zu finden sei: die Selbsttäuschung. Dazu hätte er seine eigene Selbsttäuschung schon zur Genüge ausgekostet, sich falsche Tatsachen vorgespiegelt.

Bei einer Pfeife und einer Tasse Pfefferminztee erzählte er dann, er hätte sich eines Tages einer Reisegesellschaft angeschlossen, da es in jener Zeit noch undenkbar war, durch die Sowjetunion auf solche Art und Weise zu reisen wie auf Island, dass einer also nur vorwärts ginge, da jeder Schritt, wohin er auch getan, einem das Ziel näherbringe. Er sei danach wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, da es in jenem Land, von dem er herkomme, sich so verhalte, dass der Mensch von Arbeit nicht nur nicht satt werde, sondern sogar verhungern würde, er daher auf Erwerbsarbeit angewiesen sei. An seiner Wirkungsstätte, dem Max-Planck-Institut für Literatur der organischen und anorganischen Chemie eintreffend, um seine Arbeit an der Herstellung einer Literatur-Fakten-Datenbank fortzusetzen, sei ihm die ungewöhnliche Unruhe unter den Wissenschaftlern aufgefallen. Auf Nachfrage wäre ihm mitgeteilt worden, Messgeräte in Finnland hätten erhöhte Radioaktivität gemessen, und es werde angenommen, dass ein sogenannter Super-GAU sich ereignet haben müsse. Die Kolleginnen würden sich daher gerade Urlaub im Personalbüro genehmigen lassen, der diesen auch anstandslos gewährt werde, damit sie mit ihren Kindern nach Portugal fliegen können. Später sei dann in den Nachrichten bekanntgegeben worden, dass die Nuklearkatastrophe sich am 26. April im Kernkraftwerk Tschernobyl ereignet habe. Er hätte daraufhin die Wissenschaftler darüber informiert, dass er just in dieser Zeit mit einer Reisegesellschaft in einer Iljuschin der Fluggesellschaft Interflug über Tschernobyl geflogen sei, worauf diese ihm rieten, umgehend die nächste Apotheke aufzusuchen, um sich Jod-Tabletten zu beschaffen. Als er in der Apotheke nach Jod-Tabletten fragte, sei ihm mitgeteilt worden, dass diese ausverkauft seien. Die Apotheken im Umkreis hatten schließlich nicht damit rechnen können, dass an nur einem einzigen Tag alle Wissenschaftler des Forschungsinstituts Jod-Tabletten kaufen würden.

Auf die Frage hin, wie er dann zu der Ansicht käme, dass er sich falsche Tatsachen vorgespiegelt habe, setze er seine Geschichte fort. Die tiefe Sorge und Unruhe, die er bei den Wissenschaftlern feststellte, stand im krassen Gegensatz zu jenem, was in seinem Dorf stattfand. Zwar waren dort alle neugierig auf jede neue Nachricht, hielten jedoch die nicht enden wollenden und ständig wiederholten Beteuerungen, die ganze Angelegenheit sei weit weg passiert, und es bestehe kein Anlass zur Sorge,  für bare Münze. Er habe sich daher einer Gruppe angeschlossen, die aus eigener Tasche sich einen Geigerzähler kaufte, Messungen vornahm, und die Ergebnisse nebst ergänzender Erklärungen von Wissenschaftlern in einer eigenen Zeitung publizierte. Am ersten Jahrestag nach dem Unglück hätte er dann einen Nachruf verfasst, der sogar von einer Zeitung angenommen und veröffentlicht worden wäre. Denn er habe sich damals noch eine falsche Tatsache vorgespiegelt, in der Annahme, es wäre möglich, durch einen Text das Vergessen verhindern zu können. Und so habe er darüber jene Zeilen vergessen, von denen seine Gattung ausgehe, sie würden eine irreale Sicht skizzieren, und schloss seine Geschichte, indem er die Zeilen vor sich hin murmelte:

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“

Am nächsten Morgen war sein Zelt verschwunden. Nur ein gefaltetes Blatt Papier unter einem Stein blieb zurück, auf das er mit einem Bleistift „Unser Vergessen baut die Gitter“ geschrieben hatte. Als Begründung dafür, dass es besser für ihn war, sehr rechtzeitig aufzubrechen, denn er hätte, wie die Überschrift bewies, immer noch einen weiten Weg vor sich, um sein Ziel zu erreichen. In seinem Zweifel, ob Mutationen des Petkau-Effekts ihn ausgerechnet in eine Möwe verwandeln würde, seinen Wunsch erfüllend, Möwe zu werden,. damit endlich einer Gattung anzugehören, die noch sichtbar in Sorge umeinander, und auch noch nicht die Fähigkeit verlor, sich einander zu erkennen.

Unser Vergessen baut die Gitter

Am 26. April jährt sich zum ersten Mal die Möglichkeit des sogenannten Unmöglichen. Während weiterhin Menschen nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ genussvoll ihre Becquerels verzehren, und andere mit dem Kopf gegen die Wand rennen, um den schleichenden Mord aufzuhalten, reiht sich Unfall an Unfall, schreiten die verantwortlichen Optimisten mit beschwichtigenden Gesten über die Gräber der Opfer. Auch statistische Tote sind Tote. Dass die Sowjetunion aus Staatsräson über Leichen geht, ist nicht neu, dass die Bundesregierung ebenso Leichen in Kauf nimmt, ist schockierend, und nicht minder Barbarei. Die Sorge und der Widerstand bewahrt den verantwortungsbewussten Bürger nicht von der Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen; auch er muss essen, was auf den Tisch kommt, und künstlich erzeugte radioaktive Strahlung macht um niemand einen Bogen. Ihm bleibt die Mühe, möglichen Etikettenschwindel zu erkennen, oder ihm ausgeliefert zu sein.

Es jährt sich zum ersten Mal, dass Kindern auf die Finger geschlagen wurde, weil sie den Rasen berührten. Es jährt sich zum ersten Mal, dass Sandkästen weggebaggert werden mussten, und Kinder vor verschlossenen Bädern standen. Es wurde notwendig, unsere Kinder vor den Auswirkungen unseres Willens zu schützen, sie einzusperren, ihnen Dinge zu verbieten, die uns als Kinder selbstverständlich waren. Die Korsetts werden enger, wir bauen uns unser eigenes Gefängnis, unser Vergessen baut die Gitter. Wer denkt schon leicht über Dinge nach, die man nicht schmeckt, die man nicht riecht, und die man nicht sieht. Keiner der Sinne unterstützt den Kampf gegen unsichtbaren Mord.

Man sagt uns, wir seien sicher – und zur gleichen Zeit werden in der Bundesrepublik Mitbürger kontaminiert – sprich: vergiftet. Man erlaubt sich sogar die Unverfrorenheit, zu posaunen, der Vergiftete sei „quietschvergnügt und quicklebendig“, weil ihm wahrscheinlich noch nicht die Haare ausgefallen, und verschweigt, dass man erst der noch lebendigen Leiche ansieht, dass sie nie wieder quicklebendig und quietschvergnügt sein wird. Das Gift hat Zeit und nutzt sie.

Die Sorge wird als Panikmache verlacht, die Verantwortung als Querulanz verteufelt. Man wird später sicher Entschuldigungen für das Verbrechen des Nichtstuns, des Schweigens und der Beschwichtigung finden.

Es ist völlig gleichgültig, ob aufgrund des radioaktiven Fallouts vor einem Jahr zwei oder zweitausend statistische Tote in der Bundesrepublik zu verzeichnen sind, denn bereits ein Toter ist einer zu viel. Beklagen wird die Toten niemand, denn sie wurden bewusst von uns als statistisches Schlachtvieh zum Altar der Menschenopfer zitiert. Sie sind berechnet, und Opfer der Berechnung. Sie sind wirtschaftlich vertretbar laut Strahlenschutzverordnung, also wirtschaftlich vertretbare statistische Morde. Die Klage eines Bürgers über die Ausbringung von mit 14000 Becquerel belastetem Klärschlamm, Monate nach Tschernobyl, auf die Felder bayerischer Bauern, wurde vom Umweltministerium mit der lapidaren Begründung abgeschmettert, die Strahlenschutzverordnung gelte nur für den „willentlichen Umgang“ mit radioaktiver Strahlung, und sei somit nicht zuständig.

Es bleibt nur ein Nachruf. Menschen werden vermutlich immer erst verstehen, wenn sie vor den Mahnmälern ihrer Vergangenheit stehen. Für untätiges Hoffen gibt es keine Entschuldigung, weder heute noch morgen. Es bleibt weiterhin jeder Tag ein möglicher Jahrestag irgendeines „Tschernobyl“.

  1. April 1987