Die Chaoten von Ystuendimörk hatten einen Geigerzähler gekauft, und veröffentlichten die Becquerel-Werte von Waldfrüchten, Pilzen, etc. in der Zeitung der Chaoten.
Ihr Modell der angewandten Demokratie baute auf dem Begriff Arete auf, ging demnach von der Voraussetzung aus, dass die Menschen Tapferkeit, Besonnenheit, Freigebigkeit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit ausüben, da die Möglichkeit hierfür existiere, und sie die dritte Stufe des Wissens erreicht hätten, die sich aus den Teilen Wirklichkeit und Möglichkeit zusammensetze.
An Wochenenden schnitten die Chaoten alle eingegangenen Artikel und Leserbriefe in mühsamer Kleinarbeit mit der Schere in passende Stücke, reihten diese auf einem Bogen Papier der Größe einer Doppelseite der Zeitung nebeneinander, reicherten die Bleiwüste durch Bildmaterial an, fügten dann die Schnipsel auf die großen Bögen zu einem Layout, … aufgeklebt, der nächste, … und dies solange, bis auch die letzte Seite der Zeitung für den Druck fertiggestellt.
Hätte einer in der Redaktion darauf hingewiesen, dass ihm durch seine unentgeltliche Tätigkeit, die er aus freien Stücken wählte, ein Anspruch daraus entstünde, entweder par ordre du mufti, oder hilfsweise durch Mehrheitsentscheid von Gesinnungsgenossen, darüber entscheiden zu dürfen, welcher Text ihm genehm sei, und daher einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfe, und welcher Text ihm missfalle, der Artikel somit der Ablage „P“ zu übergeben wäre, die Gruppe hätte diesen konfirmiert, und unter Inanspruchnahme des Werbeslogans „Alles Müller oder was?“ forthin zu den Schwachsinnigen gezählt.
Derartige Attitüden waren den Chaoten in Ystuendimörk fremd, denn anderenfalls wären sie auch keine Chaoten. Und so einigten sich die Chaoten in Ystuendimörk darauf, dass allenfalls ein leichtes Schmunzeln beim Einkleben des Textes in den Layout-Bogen hinzunehmen wäre, wenn zum Beispiel der einzige bekennende Kommunist, der im Landkreis ungerührt von allen Anfechtungen weiterhin tapfer das Wort ergriff, zum x-ten Mal in einem Text sein stets gleichbleibendes Steckenpferd ritt. Alles Weitere wurde dem freien Wort übereignet. Das Plenum war die Zeitung, denn aus keinem anderen Grund unterzogen sie sich der Mühe.
Denn der Grund, aus dem die Chaoten von Ystuendimörk zusammenkamen, und völlig hirnrissig nichts Besseres mit sich anzustellen wussten, als Freizeit und eigene Geldmittel ausgerechnet darin zu investieren, Papierschnipsel auf Papierbögen zu kleben, war kein anderer als eben jener, dass bei den Meinungsmachern, die ihr Handwerk als Beruf ausführten, die Ablage „P“ bereits die Größe des Zeitungsarchivs angenommen hatte. Was keineswegs daran lag, dass da Zensur ausgeübt, wie böse Zungen gerne behaupten, sondern einfach daran, dass die Menge an Nachrichten, die von größtem öffentlichen Interesse waren, einen derartigen Umfang angenommen hatte, dass die einzige lokale Tageszeitung als tägliches Buch herauszugeben gewesen wäre, wolle sie zusätzlich zu den Berichten der Sportmannschaften, die auf regionalem Niveau entweder verloren oder gewannen, den Berichten aus dem regen Vereinsleben, und den Berichten über die Events der Lokalpolitiker, nun auch noch völlig überflüssige Becquerel-Werte von Waldfrüchten, Pilzen, etc. publizieren.
Wie bei Chaoten in Ystuendimörk nicht anders zu erwarten, erkannten sie noch nicht einmal, dass sie bereits dadurch die Merkmale einer Bürgerinititiative zeigten, da sie die Veröffentlichung von eingereichten Artikeln den Autoren gar nicht in Rechnung stellten, da dies von Autoren unter normalen Umständen ja zu bezahlen wäre.
Erst Jahrzehnte später sollte sich herausstellen, dass die Sorge der Chaoten, die als Panikmache verlacht, sowie die Verantwortbarkeit ihres Handelns, die als Querulanz verteufelt, keineswegs unbegründet war, und dass die Maßnahmen der Erwachsenen in jener Zeit, Kindern auf die Finger zu schlagen, weil sie in Ermangelung anderer Spielmöglichkeiten auf kontaminierte Rasen rannten, da die Bäder geschlossen waren, die Sandkästen keinen Sand mehr enthielten, nur hilflose Gestik war in einer Wirklichkeit, die den unmittelbar davon Betroffenen vorenthalten.
Denn neben jenem fremden und unsichtbaren Eindringling, der immerhin noch in Becquerel messbar, gab es noch einen weiteren unsichtbaren Eindringling, der allgemein unter dem Begriff „garbage in – garbage out“ und „trial and error“ sein Unwesen treibt: das hochintelligente Computer-Programm. Und da solche Programme derart hochintelligent sind, erfuhren sowohl die lokalen Chaoten wie die lokalen Nicht-Chaoten erst nach Jahrzehnten, dass sie ausgerechnet einem dieser Querulanten, die ja berüchtigt dafür sind, dass sie einfach unwillig, ihre Aufmerksamkeit an der Garderobe der Konformisten abzugeben, noch dazu einem ausgewachsenem Kommunisten, und dann auch noch ein Rotarmist, die Fortsetzung ihres Lebens verdanken. Sein Name: Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow.
In der Nacht von Sonntag auf Montag, am 26. September 1983, kurz nach Mitternacht – in der Musikkneipe von Ystuendimörk, von allen Bewohnern nur die „Eule“ genannt, wurde gerade die Platte „Never going back again“ von Fleetwood Mac aufgelegt , da in jener Zeit dieser Song dort immer die Sperrstunde einläutete, damit die Nimmersatten sich schnell noch einen „Schnitt“ bestellen konnten -, waren die Bürger von Ystuendimörk nur noch einen Atemzug von einer alles verschlingenden Mitternachtssonne entfernt. Allerdings einer solchen Mitternachtssonne, die von Menschen erschaffen, diese daher niemanden in kalten Nächten wärmt, sondern nur jeden verglüht oder verstrahlt.
Wenn eine Information von essentieller Wichtigkeit für jeden Bürger ist, neigen staatstragende Würdenträger wissenschaftsbasierter Informationsgesellschaften gerne zu der Ansicht von Despoten, indem sie argumentieren, dass genau solche Informationen den gemeinen Staatsbürger überhaupt nichts anginge. Und so blieben die Bürger von Ystuendimörk jahrzehntelang unwissend, hatten nicht die leiseste Ahnung davon, dass sie mittlerweile sowohl bei 1.200 signifikanten Unfällen, als auch bei den pro Woche auftretenden ein, zwei Computeralarmen, welche auch nur bei einer einzigen Nation gezählt, jedes Mal im letzten Augenblick gerade noch dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen waren. Dass dem so ist, ergibt sich bereits aus dem Faktum, dass Radioaktivität mittels Wind, Wasser und Wolken verreist, daher weder Visa noch Reisepässe benötigt, und ihr Landesgrenzen als purer Tand aus Menschenhand gilt.
Dass die Bürger von Ystuendimörk jahrzehntelang unwissend blieben, ist darauf zurückzuführen, dass es sicherlich schwierig wäre, den Delinquenten zu vermitteln, dass jede Person, ob nun Mann, Frau oder Kind, per Anordnung pro forma, de jure, und de facto zum Tode verurteilt sei. Und da dem so ist, erübrigt sich auch jene Praxis, welche zum Tode verurteilten Kriminellen zuteilwird, die daraufhin in ihrer Zelle auf ihre Hinrichtung warten, um dann, unmittelbar nachdem sie bereits auf den Elektrischen Stuhl geschnallt, die Mitteilung zu erhalten, dass zwar ihr Gnadengesuch abgelehnt, die Hinrichtung jedoch verschoben worden wäre.
Es wäre auch sinnlos gewesen, hätten die Wissensträger die Bürger von Ystuendimörk bei jedem signifikanten Unfall oder Computeralarm davon in Kenntnis gesetzt. Es hätte ohnehin niemanden interessiert. Waren diese doch durch Bildung und Aufklärung längst schon zu vernunftbegabten Wesen herangereift.
Und so geschah, was nicht mehr aufzuhalten war: Bildung und Aufklärung setzten diesem seltsamen Treiben der Chaoten in Ystuendimörk ein Ende. Hatten die Chaoten doch den Bogen überspannt, als sie darauf hinwiesen, dass die mittlerweile nicht mehr überschaubare Menge an billigen Konsumgütern, die im Überfluss die ungezählten Regale der Supermärkte und Warenhausketten füllen, fast durchwegs auf gnadenloser Ausbeutung der Bevölkerung anderer Kontinente beruhe. War doch nur über solche Handlungsweise das Überleben der eigenen Bevölkerung überhaupt erst zu gewährleisten, folglich gottgegeben, und keinesfalls gewollt. Zudem habe man sich keineswegs lumpen lassen, und hätte im Gegenzug auch reichlich Güter in diese Länder geliefert, und dies nicht zu knapp. Und dafür, dass diese primitiven und archaischen Kulturen seit geraumer Zeit Glasperlen als Gegenleistung ablehnen, was nicht nur unverständlich sei, sondern auch noch gegen die guten Sitten verstoße, und nun nur noch Interesse an hochtechnisierter Kriegstechnik hätten, könne man schwerlich verantwortlich gemacht werden.
So war nicht verwunderlich, dass jene Bürger, welche die Zeitung von den Chaoten übernommen hatten, der Ansicht waren, dass mittlerweile der Punkt „Ad nauseam“ längst überschritten wäre. Wie stünde man sonst da vor den sinnbegabten Esoterikern und Sektenpriestern, die von Sorge um das autochthone Volk bereits gramgebeugt in die Naturkostläden strömten. Sahen diese doch mit Seherblick bürgerkriegsähnliches Chaos ausbrechen, der illegale Schwarzmarkt für Waffen sei bereits leergefegt, und verantwortlich für diese Entwicklung seien die Vereinten Nationen, die auf Geheiß verborgener Strippenzieher nichts unversucht gelassen, und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatten, damit das autochthone Volk von Hunnenhorden überrannt werde. Und diesmal – und so viel Zeit müsse schon sein, um darauf hinzuweisen – heiße der dafür verantwortlich zu machende Jude nicht Rothschild, sondern Georg Soros, der sich zudem auch noch auf Kosten anderer bereichert habe.
Die Zeit der Chaoten und Graswurzelbewegung in Ystuendimörk ist längst Vergangenheit. Es stellte sich heraus, dass in einer wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft weder genügend Platz noch Zeit für basisdemokratische und konsensorientierte Querulanten. Wo einst Wissen die Menschen in unangenehm drückende Schranken verwies, erkämpften sich die so Geschundenen endlich ihre Befreiung, indem sie an dessen Stelle die Meinung setzten.
Und so kehrte auch in Ystuendimörk nach all den Irrungen und Wirrungen endlich wieder Ruhe ein. Nur noch die Erinnerung daran lebte fort, in den Rührseligkeiten jener mit der Zeit alt gewordenen Männer und Frauen, denen die Pflicht zu Gehorsam und Unterordnung stets ein fremder Gedanke war, und daher als Chaoten galten.
Möge daher diesen die Erinnerung an jene Zeit, an der sie Anteil haben durften und Anteil hatten, über alle weiteren bösen Überraschungen beim Renteneintritt hinweghelfen. Mögen sie ihren Nachkommen davon erzählen, so jene Geschichten aus der Vergangenheit erzählt bekommen wollen. Und mögen die Erzähler dann ihre Erzählung mit dem Satz eines Affen beenden: „Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im Übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“
[ Anmerkung der Redaktion
Zur Sorgfaltspflicht der Presse gehört, vor Verbreitung eines Artikels diesen mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Wahrheit und Herkunft zu prüfen. Üblicherweise verlinken wir niemals Eruptionen von Nazis, selbst dann nicht, wenn diese sich mit den neuen Begriff „Reichsbürger“ tarnen. Sollte ein Leser den Begriff „Reichsbürger“ noch nicht kennen, möge er anhand eines veröffentlichten „Leserbriefs“ dieser Sorte einen Eindruck gewinnen, der von den Nachfolgern der einstigen Graswurzelbewegung wohlwollend veröffentlicht wurde .]