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Covid, Quarantäne, Krater

Wie fast alle, die in Keflavík ankommen, war auch ich immer bestrebt, den Flughafen so schnell wie möglich zu verlassen und den Ort links liegen zu lassen. Vor rund zehn Jahren habe ich vor Rückflügen nach Deutschland in Keflavík übernachtet, einmal in einem winzig kleinen Holzhäuschen, das zweite Mal in einem heruntergekommenen Hostel. Lag das noch in Keflavík oder schon in Njarðvík? Die Orte gehen ineinander über und offiziell gibt es Keflavík gar nicht mehr. Alle Ansiedlungen rundum heißen nun Reykjanesbær (Rauchhalbinselstadt).

Lljósmynd:  © Bernhild Vögel

Keflavík gibt es nicht – so lautet auch eine Überschrift in Fische haben keine Beine, dem ersten Keflavík-Roman von Jón Kalman Stefánsson, den ich nun zum zweiten Mal lese.

Die Maschine landet, ich klappe das Buch zu. Neben mir ein geimpftes Pärchen, das sich erstmals einen Islandaufenthalt gönnt. Mir fehlt der bei Icelandair übliche Empfangsgruß Velkomin heim, denn diesmal fliege ich mit Lufthansa. Wir müssen sitzenbleiben, bis unsere Reihen aufgerufen werden, das übliche Aussteigechaos entfällt. Auf den ansonsten menschenleeren Gängen im Flughafen Keflavík erreiche ich das Ende der Warteschlange für den Covid-Test. Da entdecke ich sie wieder, die “Astronauten” (wollen sie auf der Halbinsel Reykjanes etwa eine Mondlandung simulieren?). Nein, es sind nur zwei in weiße Reinraumanzüge inklusive Schutzbrillen, Schuhüberzüge und Plastikhandschuhe gehüllte Covid-Phobiker, die schon am Frankfurter Flughafen für Erheiterung und Stirnrunzeln gesorgt haben.

Es ist der zweite Test innerhalb von zwei Tagen, zu dem ich nun antrete. Für den zu Einreise nötigen PCR-Test musste ich tags zuvor schon zum Frankfurter Flughafen. Es ging alles schnell, aber ich musste fast hundert Euro hinblättern, damit ich innerhalb von 12 Stunden das Ergebnis bekam.

Auf covid.is bin ich mit meiner Quarantäneadresse  registriert, habe einen Barcode erhalten, der jetzt eingelesen wird. Auch die Papiere des Frankfurter Vortests, die man in Englisch vorlegen muss, werden geprüft. In Frankfurt wurden nur zwei tiefe Rachenabstriche gemacht, in Keflavík kommt jetzt eine Entnahme aus der Nase hinzu. Und das alles ganz kostenlos.

Es sind etwa vier Kilometer bis zu meiner privaten Quarantäneunterkunft in Keflavík. Ich dürfte ein Taxi nehmen, nicht aber den öffentlichen Bus. Ich ziehe den Fußweg entlang des Flughafenzauns vor, der abseits der Autostraße zum Stadtrand führt. Er ist allerdings durch einen Bagger versperrt, so dass ich den Koffer über holprige Umwege zerren muss.

Ich habe mich gut auf die fünf Quarantänetage vorbereitet, Desinfektionszeug, Wasserkocher, Müsli, Kartoffelbrei und andere Trockennahrung eingepackt, denn ich darf nicht in die Küche. Eine nicht separate Toilette zu benutzen, ist unter strenger Einhaltung der Hygieneregeln erlaubt. Und was für mich das Wichtigste ist: Ich darf ¬  unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes – spazieren gehen.

Mein Quarantänezimmer verfügt über ein geräumiges Bett, einen Stuhl und eine nicht angeschlossene Tiefkühltruhe, die ich als Schreibtisch nutze. Das große Fenster bietet Ausblick auf die Straße und das Nachbarhaus.

Lljósmynd:  © Bernhild Vögel

Mein erster Ausflug führt mich zum nördlichen Hafenabschnitt, in dem kleinere Boote liegen. Dahinter erhebt sich eine Klippe, auf der ich einem Pfad entlang der Steilküste folge, bis hin zur nächsten Bucht, die den Ausblick auf die Müllverbrennungsanlage, eine Siliciumfabrik und die Zementtürme von Aalborg Portland eröffnet. Das motiviert nicht gerade zum Weiterwandern.

Der Wind pfeift mir heftig um die Ohren und lässt mich gelegentlich auch schwanken, so dass ich denke: Wenn jetzt die Erde bebt, was sie in den vergangenen Wochen hier ja oft genug getan hat, dann merke ich das gar nicht! Was ich nicht weiß, ist, dass die Bebentätigkeit bereits abnimmt, da am nächsten Abend die Erde im abgelegenen Geldingadalir aufreißen und Feuer spucken wird.

Lljósmynd:  © Bernhild Vögel

Vor Jahren habe ich auf der Halbinsel die brodelnden Schlammtöpfe bewundert, die den bekannteren Geothermalfeldern in der Mývatn-Region kaum nachstehen. Doch jetzt tritt über 1200°C heiße Magma aus Tiefen unterhalb der Erdkruste ans Tageslicht und formt ein ganzes Tal innerhalb von wenigen Tagen um. Seltsam, ich bin “vor Ort” (Luftlinie 20 km) und doch weit entfernt vom Geschehen. Auch ich muss in die Webcam glotzen, die Berichte lesen und kann nicht einfach mal hinwandern. Dabei wollen ihn alle sehen, den entstehenden neuen Vulkan. Denn fertig ist er erst, wenn er zu speien aufhört. Vorher erschafft er sich ständig neu. Reißt seine selbst aufgetürmten Kamine ein, bessert sie wieder mit erstarrender Lava aus und vereinigt sie vielleicht zu einem einzigen Schlot. Die Wissenschaftler vermuten, er will ein Schildvulkan werden, nicht so ein hoher und pyramidenförmiger, sondern ein breiter, behäbiger. Es kann lange dauern, bis seine Schöpfung vollendet ist.

Da anfangs niemand so recht weiß, wie man ins Geldingadalir, das Tal der Wallache kommt, herrscht in den ersten Tagen Orientierungslosigkeit und Tränen fließen. Wären die freiwilligen Helfer der Björgunarsveit nicht, die spezialisiert sind, aus Bergen, Seenot, Lawinen, Schneewehen, Lavafeldern etc. zu retten, würde das Chaos unaufhaltsam wachsen. Aber sie beginnen einen Wanderweg abzustecken, um die Massen, deren parkende Autos nun die ganze südliche Straße der Halbinsel blockieren, sicherer ins Geldingadalir zu geleiten.

Lljósmynd:  © Bernhild Vögel

Ja, ein bisschen neidisch bin ich auf die Eruptionsgucker, das muss ich zugeben. Ich erkunde inzwischen die Randbereiche und die nähere Umgebung von Keflavík. Ich muss nur manchmal Hundehaltern ausweichen oder ein paar Kindern, der Rest der Bewohner hält sich mehr ans Auto. Verständlicherweise, denn was Keflavík am meisten auszeichnet, ist der beständige starke Wind. Keflavík hat drei Himmelsrichtungen: den Wind, das Meer und die Ewigkeit, schreibt Jón Kalman Stefánsson.

Der Wind fegt die Wolken weg, die Sonne strahlt und wärmt für ein paar Minuten, dann serviert der Wind (ein hurtiger Kellner) einen Hagelschauer. Ich stelle mich wie ein geduldiges Islandpferd mit dem Hintern gegen den Wind, damit mir die Hagelkörner nicht das Gesicht zerkratzen, und warte auf den nächsten Sonnenstrahl. Ich stehe mitten auf einem uralten Lavafeld, gut bewachsen mit Heidekraut, Flechten, Moosen und Grashöckern, noch bucklig, aber nicht mehr scharfkantig und voll tückischer Spalten.

Am dritten Tag nach dem Ausbruch ist es dann soweit: Die Sicht ist klar und ich mache mich in der Dämmerung auf, wenigstens den Widerschein der Eruption am Horizont zu bestaunen. Die beiden Trolle Steinn og Sleggja (Stein und Hammer) haben ihn nicht gesehen und Sleggja blickt nur mondsüchtig übers Meer. Ich erklimme die Klippe über ihrer Höhle, die noch wegen Erdbebengefahr gesperrt wurde, und nun sehe ich den roten Schein, der sogar ein paar Wölkchen färbt. Ich habe nicht die Ausrüstung, ihn zu fotografieren, aber bei Best of Iceland kann man ihn aus dieser Perspektive bewundern.

Der Tag des abschließenden Covid-Testes bricht an, ein klarer, kalter Morgen, weiß überzuckert. Am zweiten Quarantänetag hatte mich eine Mitarbeiterin der Gesundheitsbehörden angerufen und auf die verschiedenen Möglichkeiten, wo ich den Test absolvieren könne, hingewiesen. Ich wählte das nächstgelegene Testzentrum in Njardvík. Der Weg führt mich am Meer entlang. Der Fischereihafen ist verödet, Spekulanten haben die Fangquoten verscheuert und die Trawlerflotte verrottet hinter dem Werftgelände. Auf einem Recyclinghof betrete ich eine zum Covid-Test-Zentrum umfunktionierte Halle. Obwohl ich nur fünf Minuten nach Öffnung eintreffe, bin ich die letzte in der Schlange, die von einer Gruppe junger Männern angeführt wird. Sie albern mit heruntergezogenen Masken herum, aber ich kann nicht hören, in welcher Sprache, und rätsele, ob es Touristen oder ausländische Arbeiter sind. Die Teststäbchen werden nicht so unangenehm weit eingeführt wie am Flughafen – offensichtlich gibt es da keine Norm.

Lljósmynd:  © Bernhild Vögel

Als ich zurückkomme, bricht mein Gastgeber auf, um die Eruption zu besichtigen. Ich kann leider nicht mitkommen, zumal dies kein Spaziergang ist, sondern eine Massenwanderung, auf der Abstandhalten nicht möglich ist.

Gegen vier Uhr nachmittags kommt die Nachricht auf der Nachverfolgungs-App Rakning C-19, dass mein Testergebnis negativ ist. Die Quarantänezeit ist damit offiziell beendet. Nun kann ich das Stadtzentrum und andere belebtere Plätze von Keflavík erkunden.

Am nächsten Tag, es ist Mittwoch, der 24. März, gibt es ernüchternde Meldungen: Da es in den letzten Tagen in Island, das seit Jahresbeginn nahezu covidfrei war, wieder zu gehäuften Fällen gekommen ist, darunter an einer Schule und unter Eruptionsbesuchern, treten ab dem folgenden Tag  verschärfte Bestimmungen in Kraft. Für drei Wochen werden Schulen, Kindergärten, Sportstätten und Schwimmbäder (ich hatte mich schon so aufs Schwimmen und den Hotpot gefreut!) geschlossen. Eine schnelle konsequente Maßnahme, die mit Hilfe der in Island sehr effektiven Nachverfolgung hoffentlich bald zur Eindämmung des Virus führt.

Informationen für Reisende nach Ísland:

DE: Reisen nach und in Island

DE: Die Tracing-App Rakning C-19

FR: Voyager en Islande

FR: Appli de traçage Rakning C-19

EN: Travel to and within Iceland    

EN:  Violations of COVID-19 Quarantine

EN: Pre-registration for visiting Iceland

EN: App Rakning C-19

EN: Iceland´s response

EN: Statistic

Fünfmal wird der Mensch geboren

Die erste Geburt
: am Beginn der Schöpfung –
denn nichts ward
je hinzugefügt.

Die zweite Geburt
: Zugang zu Vollkommenheit –
denn ohne ihn
bleibt materielle Welt verschlossen.

Die dritte Geburt
: Tor zum Labyrinth dualistischer Welt –
denn nur durch Kenntnis der Teile
erschließt sich ein Ganzes.

Die vierte Geburt
: Vervollständigung unseres Selbst –
denn erst das Gemeinsame
erklärt die Teile.

Die fünfte Geburt
: öffnet den Raum aus dem wir kamen –
denn nichts kann ihm
je entnommen werden.

Schlaflos

Lljósmynd:  © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Schlaflos

Nachts & das Hirn
voll Ungeduld auf
IRGENDWAS
den aufgedunsenen Mond
durch leere Altstadtgassen
kicken – nur das Herz
klopft Beifall / losgelöst
vom Rhythmus schriller
Tagesängste.

Die aufgeschlagenen Wunden
mit lästerlichen Phantasien kühlen
& in der Glut im Kopf nach
rohen Diamanten wühlen –

wie mit wachen Kindersinnen:
aus jedem Schatten
einen Traum gewinnen …

DAMALS, ALS ICH MICH SCHÄMTE

Ljósmynd : (C) Delphine & Thibault

DAMALS, ALS ICH MICH SCHÄMTE

da schämte ich mich für alles / was ich tat
oder nicht tat / oder auch nur gedachte
zu tun oder nicht zu tun /
vor allem aber schämte ich mich meines Vaters /
der im Dorf den Dreck der anderen von den Straßen kehrte /
der kleingeblümten Schürze meiner Mutter /
die sie immerzu vor Brust und Bauch und Schenkeln trug /
und ihres Kopftuchs / mal auf den Schultern meist um den Kopf /
ich schämte mich der wollenen Hose mit Gummizug /
die mir wie ein Lappen lose auf den Knöcheln hing /
während anderen längst Jeans eng über die Hintern spannten /
ja ich schämte mich der Armut meiner Eltern /
die ich empfand und aus der ich / noch Kind
und noch für Jahre später /
auch für mich kein Entkommen sah

ich bin ihr entkommen /
doch erst auf dem Weg hinaus / das erinnere ich /
als Töchter und Söhne von Lehrern und Pfarrern
von Ärzten und Bankern / ja selbst
von den Eigentümern der Fabriken /
die ein ganzes Dorf beherrschten /
der Welt die Herrschaft des Proletariats erkämpfen wollten /
schämte ich mich meiner Scham

wie nur hatte ich den Reichtum meiner Eltern nicht sehen können?
die unverbrüchliche Liebe meiner Mutter
zu mir ihrem Kind zu ihrem Mann?
den ehrlichen Stolz meines Vaters /
der sich mit nichts und niemandem gemein machte /
doch in die grauverwitterten Baracken ging
und mit den Polacken sprach / die von allen gemieden waren /
den Geflüchteten damals wie heute vor Krieg geflohen /
nur dass wir selbst es waren / die mit diesem Krieg
die Welt ein weiteres Mal zerrissen hatten?

wie nur hatte ich träumen können /
dass er mir die Füße abhacken wollte /
während ich versuchte ihm auf dem Fahrrad zu entkommen?

er der Vater /
der mir die hässlichen Warzen abkauft /
die den Rücken meiner rechten Hand entstellen

er der Vater /
der mir die Angelrute wiederbringt /
die mir der Polizist des Dorfes abgenommen hat

er der Vater /
der mein erstes Gedicht
in die Redaktion der Dorfzeitung trägt
und sagt / es sei von seinem Sohn

er der Vater /
der eine Holzleiter vor sich her
über das knirschende krachende Eis des Sees schiebt
und das eingebrochene Kind aus dem Bruchloch rettet

er der Vater /
der mir am aufgeschlitzten Leib eines Kaninchens
das Geheimnis der Fortpflanzung erklärt

er der Vater /
der den Dreck der anderen kennt /
weil er ihn wegmacht als Straßenkehrer /
und weiß / dass es gute und schlechte Menschen gibt
in den Häusern den Villen und in den Baracken
des Dorfes / der Welt

Seit ich meine Hände zählte

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Seit ich meine Hände zählte,

die Beine, die Ohren, die Augen,
den Mund, und einsehen musste,
es werden nicht mehr,
lerne ich Sätze auswendig,
Gedichte, Romane,
denn dem Feuer, das
uns vertreiben wird, wenn
über unseren Köpfen
das Dach einstürzt,
widersteht nur das Paradies
in unseren Köpfen.

(Wolfgang Schiffer)

Síðan ég taldi á mér hendurnar

fæturna, eyrun, augun,
muninn, og skildist að
þeim fjölgar ekki lenur
læri ég setningar utanað
kvæði sögur
því gegn eldinum
sem hrekur okkur burt
þegar þakið brotnar
yfir höfði okkar
stendur aðeins aldingarðurinn
í höfði okkar.

Übersetzung:  Franz Gíslason (1935 – 2006)

 

Am Meer

Ljósmynd: Wolfgang Schiffer

 

Am Meer

Hier sitzen:
Sand und Gischt und Muschelwerk
die Sonne blutet aus
der Wind schreit Möwen an
wenn sie ihm allzu dreist den Weg verstellen
es ist, als knatterts im Gefieder oder
täuscht mich das verletzte Ohr
das ich noch mit mir trage
das beleidigte Auge
das in der Weite immer noch
der Menschen Schatten sieht
obwohl die Möwen sich nun niederlassen
und aus dem Sand, in dem ich sitze
dem Muschelwerk, umspült von Gischt
der Menschen letzte Spuren picken.

Við sjóinn

Að sitja hér:
sandur og særok og skeljaskraut
sólinni blæðir út
vindurinn gargar á mávana
þegar þeir hefta för hans framhleypnir um of
það er eins og snarki í fiðrinu eða
blekkir mig sært eyrað
sem ég burðast enn með
móðgað augað
sem enn greinir í fjarska
skugga mannanna
þótt mávarnir stjist nú niður
og kroppi síðustu mannasporin
úr sandinum þar sem ég sit
skeljunum, umleiknum sædrifi.

Übersetzung: Ingibjörg Haraldsdóttir (1942 – 2016)

Eine Reise nach Syrien

Das gegen innere Widerstände mitgenom­mene Mobiltelefon habe ich – was gewiss kein Zufall ist – schon im ersten Hotel vergessen. Der Verlust hat nicht sehr ge­schmerzt, habe ich doch ein recht kritisches Verhältnis zu dieser „Errungenschaft“ der mo­der­nen Kommunikationstech­nik: Ich finde, so ein Handy rundet die „emotionalen Ecken“ ab, Abschied und Wiedersehen zum Beispiel werden gar nicht mehr richtig durchlebt, durch­litten und genossen, wenn die kommunikative Nabelschnur niemals unterbrochen ist.  Und wie kann man sagen: „Ich bin dann mal weg …“, wenn ständige Erreichbarkeit besteht?

Einen Fotoapparat habe ich von Anfang an gar nicht mitgenommen: Noch nie hatte ich auf einer derartigen Reise eine Kame­ra dabei, denn ich habe früh bemerkt, dass sie dazu ver­führt, die Welt ständig als Fotomotiv zu sehen und auf „Sehenswürdigkeiten“ zu reduzieren. Mir aber kam es darauf an, das frem­de Land in seiner ganzen Buntheit und Vielfalt  bewusst und ohne Ablenkung in mich aufzu­nehmen. (die besuchten „Sehenswürdigkeiten“  sind schließ­lich auf Postkar­ten erhältlich …) Nur so ist es möglich, an jedem Ort, den ich auf­ge­sucht habe, tatsächlich gewesen zu sein. Und das Erlebte mache ich nicht durch Fotos, son­dern durch Schreiben erinnerbar.

Wer allein eine Reise in ein fremdes Land unternimmt, tritt auch eine Reise zu sich selbst an. Unmittelbar und ungefiltert treffen Bilder, Geräusche, Gerüche und Gefühle auf die eigene Seele. Auf diese Weise spiegelt die fremde Umgebung  das Ich mit seinen moralischen und kulturellen Wertvorstellungen, bisherigen Erfahrungen, seinen (Vor-)urteilen, Vorlieben und Abneigungen und eröffnet so eine neue Sicht auf die eigene Existenz und auf die umgebende Welt: Die Begegnung mit einer frem­den Welt wird zur Selbstbegegnung. Liegt doch das Eigene meist im toten Winkel der Wahr­nehmung.

Der allein Reisende ist weitgehend Herr über Zeit und Raum – welch beglückendes Erlebnis, wo unser Leben heutzutage doch bis ins Detail strukturiert ist von Uhren, Fahrplänen, Am­peln, Fußgängerüberwegen, Vereinba­run­­gen, Verabredungen, Terminen … und nur der Rei­sende selbst bestimmt die Richtung, in die er sich bewegt, die Neugier weist ihm den Weg, er kann sich treiben lassen von Lust- und Unlust­gefühlen. Und es spielt keine Rolle, ob er müde gewor­den ist, oder über die Energie für weitere Stunden des Umherwan­derns ver­fügt – kann er doch rasten, wann immer und so lange er will!

Nach eineinhalb Stunden kündigt sich die türkisch-syrische Grenze durch kilometerlange Lastwa­genkolonnen an. Das Verhältnis der beiden Länder hat sich in letzter Zeit wesentlich verbes­sert, der Handel ist nun rege und dementsprechend geht es an der Grenze mit ihren Forma­litäten zu. Unser Fahrer wuselt listig rechts und links an den Kolonnen vorbei, schimpft, und wird beschimpft,  und schon stehen wir vor dem Abfertigungsgebäude an der Grenze. Alle müssen aussteigen, zur Passkontrolle. Unser Fahrer geht durch den Bus und sammelt alle türkischen Pässe ein. Ich sage: „Ich bin Deutscher, nicht Türke“. Er zwinkert mir zu: „Jetzt bist du auch mal Türke“, nimmt meinen Pass und verschwindet im Laufschritt in der Abferti­gungshalle. Ich, etwas besorgt, hinterher. Aber schon ist er in irgendwelchen Büros ver­schwun­den mit seinen türkischen Pässen. Während die anderen ausländischen Mitreisenden die Einreiseformulare ausfüllen, kann ich mich in Ruhe umschauen. Das Gebäude ist ziem­lich neu und sehr gepflegt, es herrscht eine ruhige Atmosphäre; natürlich blickt das Konterfei des – wie ich finde – „chaplinesk“ drein schauende Präsidenten, der von nun an allgegen­wärtig sein wird in diesem Land, gleich mehrfach von der Wand. Und dann fällt mein Blick auf ein großes Schild: „Verehrte Einreisende“, heißt es da, „sollte sich einer unserer Beam­ten nicht korrekt verhalten oder in irgendeiner Weise Anlass zu Beschwerde geben, so wen­den Sie sich bitte an den zuständigen Aufsichtsbeamten oder rufen Sie die Telefonnum­mer … an.“  Da fällt mir ein, was mir bei der Einreise am Flughafen in Baltimore (USA) vor einigen Jahren als erstes auffiel: Ein Schild, das in rüdem Ton darauf verwies, dass es ein strafbewehrtes Vergehen sei,  bei der Passkontrolle eine Diskussion zu führen („to argue with an immigration officer“). Welch ein Kontrast zwischen dem Land, das angeblich ein Hort der Finsternis sein soll einerseits, und dem gelobten Land der Freien und Gleichen andererseits  …

Allepo

Am Ende der Gasse eine nun lebhafte Straße. Hier kommen viele Taxis an und vor allem auch  große Touristenbusse. Ich setze mich auf eine Mauer an der Moschee und betrachte das Treiben. Gerade quellen etwa 40 Touristen aus Deutschland aus einem der Busse; kaum setzen sie den Fuß auf die Straße, reißen die meisten von ihnen die Kamera vors Auge und „schießen“ wie wild um sich. Manche fahren mit ihrem Camcorder einen  ra­schen 360-Grad-Schwenk um die eigene Achse. Die Reiseführerin weist auf drei renovierte Holz­häuser hin (wie ich sie bereits in großer Zahl auf meiner Wanderung heute früh gesehen habe), und schon richten sich alle Kameras auf diese drei Gebäude. Es scheint aber nie­mand richtig hin zu schauen, vielmehr gilt die ganze Aufmerksamkeit  der Entdeckung weite­rer Fotomotive. Ich stelle mir vor, dass viele der hier Anwesenden möglicher Weise erst auf dem Sofa daheim, wenn sie die Fotos betrachten, zum ersten Mal all das Schöne zur Kennt­nis nehmen, das sie hier vor Ort offenbar nicht richtig in sich aufnehmen (können).  Die Rei­se­führerin erzählt dann offenbar noch vieles mehr, aber es hören nur ein halbes Dutzend wirk­lich zu, die anderen haben sich abgewendet, fotografieren, gucken sich am Straßenrand angebotene Souvenirs an, trinken aus mitgebrachten Wasserflaschen und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Und reden viel. Ich frage mich, warum diese Leute überhaupt eine doch sicherlich nicht billige „Bildungsreise“ gebucht haben. Als ich der Gruppe nachschaue, wie sie sich nun, hinter dem Fähnlein der Reiseführerin versammelt, den Hügel zur Zitadelle hinauf schleppt (die Zufahrt von hier aus ist für Busse gesperrt), denke ich daran, wie gut ich’s doch habe … ich nämlich kann es mir erlauben, hier zu sitzen und zu staunen solange ich mag, um an die­sem ersten Tag erst einmal die Stadt als Ganzes mit allen Sinnen in mich auf zu nehmen; Zi­ta­delle und Moschee und all die anderen Sehenswürdigkeiten können warten, sie sind ja schon viele hundert Jahre und auch morgen noch da …

Es ist – nach vielen unguten Erfahrungen in anderen Ländern –  unglaublich, wie unbehelligt ich mich als Tourist in diesem Land bewegen kann: Keinerlei lästige oder aufdringliche „An­mache“, niemand zupft am Ärmel, niemand will einem irgendwelche „echt antike“ Schätze verhökern, einen Teppich verkaufen, die Schwester anbieten, illegal Geld wechseln oder ein­fach nur „guide“ sein! Welch ein Gegensatz zu Ländern wie Ägypten oder Marokko! Wende ich mich aber Auskunft suchend an einen Passanten, so überschlägt sich der vor lauter Hilfs­bereitschaft! Die Verständigung ist zwar in aller Regel schwierig, nur die Wenigsten können Englisch oder Französisch, im Lesen eines Lageplans sind die Syrer auch nicht gerade Welt­meister – aber sie sind herzlich und freundlich und immer sind sie bemüht, dem Fragenden eine Antwort zu geben (die sich bisweilen später als falsch heraus stellt, vermutlich, weil es in den Augen eines Syrers immer noch besser ist, eine unzutreffende Auskunft zu geben, als gar keine.) Als ich in einer überfüllten Bank Geld wechseln möchte und mich hilflos um­schaue, komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der einmal ein paar Jahre in Dortmund gearbeitet hat und noch recht gut deutsch spricht. Er nimmt sich viel Zeit für mich, lotst mich an langen Warteschlangen vorbei, redet mit dem Schalterbeamten, lässt sich nicht abwim­meln, und ich bekomme meine syrischen Pfund. Herzlich verabschiedet er sich von mir, wie von einem alten Freund. Abends, als ich am Sahat Hatab, dem kleinen Platz in der Nähe mei­nes Hotels einen „sun­downer“ genieße, kommt plötzlich dieser Mann aus der Bank vorbei, an der Hand seine zwei kleinen Töchter, etwa im Alter von 8-10 Jahren.  Eine von ihnen ist behindert. Der Mann zeigt sich ehrlich erfreut, mich wieder zu sehen. Ich bin es auch. Die beiden Mädchen geben wohlerzogen die Hand, wir wechseln ein paar Worte, dann muss er weiter, seine Frau wartet. Mit einer Umarmung verabschiedet sich der Mann, wie es üblich ist in diesem Land.  An die­se Begegnung muss ich oft denken: Wie schnell kann sich manchmal ein herzlicher Kontakt zwischen Menschen ergeben, die sich völlig fremd waren!  Und es fällt mir das Zitat aus dem „Kleinen Prinzen“ ein, „Man sieht nur gut mit dem Herzen“.

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Der nächste Tag ist ein Sonntag. Früh werde ich geweckt – nein, nicht vom Ruf des Muez­zin, sondern vom Glockengeläut der im 19. Jahrhundert gebauten katholischen Kirche hinter dem Hotel! Tja, in Syrien ist möglich, was im Deutschland von Herrn Sarazzin undenkbar ist. Man stelle sich nur einmal vor, einen Steinwurf von Münchens Marienplatz entfernt riefe am Morgen der Muezzin zum Gebet! Beschämt muss ich mir eingestehen, dass für den größten Teil meiner deutschen Mitbürger eine solche Vorstellung wohl unerträglich ist.

Es ist wohl die „Ganzheit“ menschlichen Lebens, das Neben- und Miteinander von Produktion, Handel, Wohnen, geselliger Zerstreuung, Erholung und religiöser Hingabe. Wohnung, Werkstadt, Geschäft, Teestube, Moschee und Hamam – alles ist in Reichweite, kaum getrennt. Ein Nebeneinander auch der Generationen: Greise, die an der Türschwelle sitzen und Horden spielender Kinder in den Gassen. All das, was wir der Mo­derne geopfert haben, suchen wir nun sehnsüchtig wieder zu finden in fernen Ländern. Wohnen wir doch in „Schlafstädten“, arbeiten in Industriezonen oder Bürohäusern, kaufen in Einkaufszentren, entspannen uns im Vergnügungsviertel, erholen uns im „Wellness-Centre“, besuchen unsere Alten im Altenheim und verbannen unsere Kinder auf Spielplätze, Kirchen brauchen wir schon lange nicht mehr … Alles ist getrennt, funktional, effizient, raum-,  geld-, zeitsparend organisiert. Das menschliche Dasein, es ist in Segmente zerfallen und es wird immer schwerer, die Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.

An diesem letzten Abend in Aleppo sitze ich noch einmal in der Nähe meines Hotels vor dem „Café Sissi“ am Sahat Hatab-Platz, der mich mit seinem Flair ein wenig an Montmartre oder auch Alt-Schwabing erinnert. Hier wird mir bewusst, dass Aleppo auch heute noch eine Schnitt­stelle ist zwischen Tradition und Moderne, zwischen Okzident und Orient, zwischen verschiedenen Kulturen. Fast so wie ich Beirut erlebt habe vor dem Krieg von 1975. Um mich herum sitzen ganz unterschiedliche Menschen: Das syrische Paar mittleren Alters, mit dem ich mich französisch unterhalten kann, er trinkt (in aller Öffentlichkeit!) ein Bier, sie tele­foniert mit ihrem Mobiltelefon. Dann sind da zwei junge Frauen, beide tragen Kopftuch – und rauchen, sich lebhaft unterhaltend, Wasserpfeife (auch das in aller Öffentlichkeit)!  Und dann ist da eine westlich gekleidete, offenbar gut betuchte Dame, die – einen Hund (!!!) an der Lei­ne – mit einem Begleiter am Nebentisch Platz nimmt. Das ist etwas Unerhörtes, denn für ei­nen Muslim ist der Hund, neben dem Schwein, ein unreines Tier, dessen Nähe der Mensch meidet. Der Hund und seine Herrin erregen denn auch große Aufmerksamkeit, die Buben, die in der Mitte des Platzes Fußball gespielt haben, unterbrechen ihr Spiel und stehen bald belustigt tuschelnd, und gleichzeitig ungläubig staunend in einiger Entfernung um den Tisch, an dem sich Hund und Mensch niedergelassen haben. Auch die Passanten, die vorbei kom­men, werfen verstohlene Blicke auf den Hund, der es sich unter dem Stuhl seiner Herrin ge­mütlich gemacht hat. Da fällt mir das Kapitel „Ich, der Hund“ in Orhan Pamuks Roman „Rot ist mein Name“ ein, das die Existenz der Gattung Hund aus der Sicht eines Hundes in Istan­bul mit umwerfender Komik beschrieben hat. Und es fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich seit meiner Abreise aus Deutschland vor 14 Tagen nicht einen einzigen Hund zu Gesicht be­kommen habe, bis heute Abend.

Wenn ich die drei Tage, die ich nun in Aleppo verbracht habe, Revue passieren lasse, so bin ich einiger Massen verwirrt. Was ich sah, entspricht so gar nicht dem Klischee vom „bösen Islam“, vom „Ort der Finsternis“, „der Achse des Bösen“, die Syrien doch sein soll – wenn man Psy­cho­pathen  wie Ronald Reagan, George W. Bush, Herrn Sarrazin, etc. glauben will. Nun könnte man mir entgegnen: Syrien und vor allem Aleppo ist ja nicht „typisch“! Aber warum soll immer nur „typisch“ sein, was dem Vorurteil entspricht? Könnte man nicht auch argumentieren, dass Aleppo „typisch“ ist für die kulturelle und religiöse Toleranz, die eben auch anzutreffen ist in den Ländern des Nahen Ostens?

Etwa vier Monate, nachdem ich aus dem mir so liebenswert erscheinenden Land zurückgekehrt war, kamen erschreckende Bilder aus Syrien: Bilder von Panzern und Soldaten in den Städten, Frauen und Kinder auf der Flucht, blutüberströmte Demonstranten und brennende Geschäfte … Wie mag es nun den vielen netten Menschen ergehen, die ich auf meiner Reise kennen gelernt hatte? Sind sie alle noch unversehrt?

Menningararfur

Der Bürgermeister der Gemeinde trat an das Rednerpult, begrüßte die Gäste der Konferenz, und bedankte sich dafür, dass so viele der Einladung gefolgt waren. War doch die Einladung allgemein an alle Mitglieder der Gemeinde gerichtet, und nicht nur an  vorher bestimmte Personen.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Nur die Sitzordnung war vorherbestimmt, denn jeder der großen runden Tische im Konferenzraum der Stadtverwaltung war vor Beginn der Konferenz mit einem Aufsteller versehen worden, der in englischer Sprache die Gäste darauf hinwies, welche Sprache an diesem Tisch gesprochen werde: „Philippinisch“, „Thailändisch“, „Polnisch“, „Englisch“, „Französisch“, „Deutsch“, „Isländisch“, etc. An jedem dieser Tische saß ein Muttersprachler, der – da bereits langjähriges Mitglied der Gemeinde – auch die Landessprache fließend beherrschte, damit ein jeder allen anderen gleichgestellt sei, und nicht durch Sprachbarrieren an der Teilnahme behindert.

Der Bürgermeister der Gemeinde stellte am Beginn seiner Rede zur Begrüßung der Teilnehmer seine Stadt vor. An Einwohnern zähle sie 2.560 Mitbürger, wobei zu erwähnen wäre, dass 30 % der Mitbürger nicht in diesem Land aufgewachsen seien, sondern in 29 anderen Nationen der Welt. Die Konferenz habe das Ziel, von diesen zu erfahren, mit welchen Schwierigkeiten und Hindernissen sie konfrontiert seien, und durch welche Maßnahmen die Gemeinde dem abhelfen könne. Aus diesem Grund werde jedem Teilnehmer eine umfangreiche Liste an Fragen vorgelegt, mit der Möglichkeit, dass ein jeder seine persönliche Antwort als Betroffener abgeben könne. Zu diesem Zweck sei jedem Teilnehmer ein Notizzettel-Block zur Verfügung gestellt worden, damit jeder seine Antwort in seiner Muttersprache darauf niederschreiben könne. An jedem Tisch sitze eine Person, die nicht nur dessen Muttersprache spreche, sondern auch die Landessprache. Diese Person werde die Antwort jedes Teilnehmers am Tisch zu jeder einzelnen Frage sammeln, und am Ende jede einzelne Antwort vortragen, so dass alle Teilnehmer alle Antworten erfahren. Da damit zu rechnen sei, dass die Konferenz deswegen mehrere Stunden in Anspruch nehmen werde, habe man für das leibliche Wohl vorgesorgt, und es sei ein Buffet vor dem Konferenzraum für alle Teilnehmer bereitgestellt.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Unweit des Konferenzraums, in dem Gebäude, in welchem die Universität der Gemeinde untergebracht, befindet sich eine weitere Lehranstalt, die mit der Bezeichnung „Schule für lebenslanges Lernen“ wohl am besten beschrieben. Im Rahmen deren Angebots werden didaktisch und methodisch durchdachte Sprachkurse in zweckdienlicher Form bereitgestellt, die aufeinander aufbauen, von professionellen Pädagogen durchgeführt, mit dem Ziel, die Schüler in die Lage zu versetzen, in der Landessprache kommunizieren zu können. Und so ist es keineswegs ungewöhnlich, in einem Klassenzimmer elf Schüler vorzufinden, die aus drei Kontinenten kommend, und sechs verschiedene Muttersprachen sprechend, von einem Mitschüler zum anderen gehen, mit diesem einen freien Dialog zu einer bestimmten Situation in der Landessprache führen, die Lehrerin bei den sich durchwechelnden Zweiergruppen dabei mithört, und bei Bedarf bei einem Schüler dessen praktizierte Aussprache, Wörter und Grammatik korrigiert.

Für die Schüler der Sprachkurse ist von Vorteil, dass in der Gemeinde auch das Büro der Gewerkschaft aufzufinden ist. Verhält es sich doch so, dass jeder Lohnempfänger des Landes per Gesetz automatisch Gewerkschaftsmitglied ist, daher die Unternehmen bei der Lohnabrechnung neben der Steuer auch den Gewerkschaftsbeitrag abführen, der auf 1 % des Bruttolohns festgesetzt. Was dazu führt, dass die Gewerkschaft dem Teilnehmer der Sprachkurse 75 % der Kursgebühren erstattet.

Lljósmynd: © Kári Þór Jóhannsson, Fiskbúð Sjávarfangs

Es ist verständlich, dass ein Außenstehender, dem Kultur bis dahin noch fremd, sich mit der Frage konfrontiert sieht, was denn das Bewirkende sei, die zu solcherart Bewirktem führe. Dabei wäre die Antwort naheliegend, und vom isländischen Staatspräsident Guðni Th. Jóhannesson bereits mit einem einzigen Satz beantwortet: “Wir können die Regierung auswechseln, aber wir können nicht die Wähler auswechseln.”

Die Saga vom Tiere-Fjord

I. Königin Hortense nimmt Kurs auf Reykjavík

Da staunten die Reykjavíker nicht schlecht: La Reine Hortense und Le Cocyte tauchten am Horizont auf und gingen in der Bucht vor Anker. Isländer der Jetztzeit denken sofort an Kreuzfahrtschiffe, zu groß um im Hafen anlegen zu können, schwimmende Hochhäuser mit tausenden von Kreuzfahrern, die nach der Ausbootung Reykjavík, aber auch kleinere Hafenstädte wie Akureyri oder Ísafjörður heimsuchen.

Kreuzer vor Island: 1856 (La Reine Hortense) und 2016 (Azura) Bild: Bernhild Vögel

Doch in der Zeit, in der diese Saga handelt, gab es noch keinen Hafen in Reykjavík. Das Städtchen zählte kaum 1.500 Einwohner und sein einziges aus Stein erbautes Gebäude war die Domkirkja.

Vor 161 Jahren, Anfang Juli des Jahres 1856, liefen nacheinander zwei große Segler, randvoll beladen mit Kohle und Proviant, in den Faxafloi ein. Ihnen folgten zwei imposante Dampfschiffe, bei denen es sich trotz der blumigen Namen La Reine Hortense und Le Cocyte um französische Kriegsschiffe handelte. Sie wurden von der bereits zuvor angekommenen l’Arthémise mit 21 Kanonenschüssen begrüßt, die am Hausberg Esja widerhallten und bei einem älteren Einwohner Reykjavíks einen Hörsturz verursachten.

Doch was sich irgendwie auf den Beinen halten konnte, hatte sich in Schale geworfen, stand am Ufer und jubelte den ankommenden Fremden zu. Diese blickten mit wachsender Ernüchterung auf das, was die Hauptstadt Islands darstellen sollte. Neben dem Anwesen des dänischen Gouverneurs gab es nur eine Handvoll ansehnlicher Gebäude, ansonsten war die Stadt eine Ansammlung ärmlicher Fischerhütten, baumlos und ohne Gärten. „C’est triste, morne, désolé!

Reykjavík 1856 (aus: Chojecki, Voyage dans les mers du nord) und 2014

Das notierte Edmund Chojecki, ein in Frankreich lebender polnischer Journalist und Schriftsteller. Er hatte für sozialistische Zeitungen geschrieben, war aus Frankreich ausgewiesen worden, hatte am Krimkrieg teilgenommen, war aber nun Sekretär des Expeditionsleiters an Bord der Korvette La Reine Hortense und verfasste wissenschaftliche Notizen über die Expedition, die ein Jahr später unter dem Pseudonym Charles Edmond veröffentlicht wurden.

Ein Boot näherte sich der Korvette, und an Bord kletterten die städtischen Honoratioren, ‒ Gouverneur, Bürgermeister und Geistlicher ‒ um dem Expeditionsleiter ihre Aufwartung zu machen. Denn dieser war keine Geringerer als Prinz Napoléon, der Sohn von Jérôme Bonaparte, dem ehemaligen König von Westphalen. Der amtierende Kaiser Napoleon III. hatte seinen Cousin auf Eismeerexpedition geschickt, oder besser gesagt: abgeschoben, denn im gerade zu Ende gegangenen Krimkrieg hatte sich Prinz „Plon-Plon‟ nicht gerade als Vorbild für die Truppe erwiesen.

Doch das war den Reykjavíkern egal: Sie fühlten sich durch den Besuch hoch geehrt, zumal der Prinz sich alsbald an Land setzen ließ, um das offizielle Besichtigungsprogramm ‒ Dómkirkja, Kirchgarten, Lateinschule, Druckerei, Bankettsaal, Apotheke und gar ein Handelshaus ‒ zu absolvieren. Anschließend zog er sich mit Gouverneur Trampe zu nicht öffentlichen Gesprächen an den Elliðavatn zurück. Abends schmiss Trampe im Garten seiner Residenz ein Bankett vom Allerfeinsten. Die Sprache, in der sich die gebildeten Bürger Reykjavíks (und deren gab es  trotz der schlichten Behausungen doch verhältnismäßig viele) fließend mit ihren weltgewandten Gästen unterhalten konnten, war ‒ Latein.

Die Passagiere werden ersucht, nicht in die Fenster zu glotzen. Illustration von Pétur Guðmundsson (Quelle: www.bb.is)

Unermüdlich trieb der Sekretär des Prinzen unterdessen Studien über Land und Leute, glotzte in jedes Fenster wie heutzutage die Kreuzfahrer, ja, scheute sich nicht, die elendste Fischerhütte zu betreten, um sie wortreich beschreiben zu können. Damals gab es noch keine Benimm-Broschüren für Schiffsreisende, in denen sie in charmanten Comics darauf hingewiesen werden, die Intimsphäre der Eingeborenen zu achten. Im 19. Jahrhundert herrschte noch eine ungezwungene Zoo-Atmosphäre sowohl bei den Studienreisenden wie bei ihren Studienobjekten.

Und nahtlos geht es jetzt unter dem Stichwort Dýrafjörður ‒ Fjord der Tiere ‒ weiter, denn der Besuch des Prinzen beim trägen Geysir wird elegant mit Link übersprungen.

II. Abstecher in den Dýrafjörður

Sie werden sich sicherlich schon gefragt haben, liebe Leser, was denn die wahren Gründe waren, die den Prinzen nach Island getrieben hatten, denn Sie wissen, dass solche Staatsbesuche immer ein handfestes Ziel verfolgten ‒ Handel, Einflusssphären, Heiratsprojekte ‒ und verfolgen.

Der Prinz nahm Abschied von den begeisterten Reykjavíkern mit einer vielzitierten Rede: Er sagte, die Dänen seien immer Freude Frankreichs gewesen … und die Franzosen erinnerten sich noch, wie die Dänen sich bemüht hätten, 1813 loyal zu sein.‟

Die Dänen hatten ihre strikte Neutralität wegen der zweifachen Angriffe der Briten auf Kopenhagen nicht durchhalten können, und sich auf die Seite Napoleons geschlagen, was ihnen 1813 den Staatsbankrott und ein Jahr später den Verlust Norwegens einbrachte. Nun aber, im Zuge des Krimkrieges hatten sich Frankreich und Großbritannien wieder zusammengetan, was die Dänen sicherlich mit einiger Besorgnis erfüllte. Was lag näher, als etwas Schönwetter in den dänischen Kolonien zu machen?

Nicht ohne den Isländern zu versichern, er wünsche ihnen bestes Wohlergehen, dampfte der Prinz weiter zu den nächsten Forschungsobjekten, der unbewohnten Insel Jan Mayen und Grönland. Doch plötzlich drehte die La Reine Hortense ab, nahm Kurs auf die isländischen Westfjorde und ankerte im abgelegenen Dýrafjörður. Begehrliche Blicke richteten sich dort auf das Haukadalur (nicht zu verwechseln mit jenem Haukadalur, das den Geysir und andere Springquellen beherbergt). Nein, an diesem Haukadal im Dýrafjörður hatte schon der Norweger und spätere Saga-Held Gísli Sursson Gefallen gefunden und sich dort niedergelassen. Selbstverständlich beabsichtigte Prinz Napoléon nicht, von Frankreich nach Island zu emigrieren, jedoch hatte auch er ein Siedlungsprojekt in der Tasche. Und manchem Isländer ging angesichts dieses Überraschungsbesuches ein Lichtlein auf.

Die Dänen hatten den Isländern 1787 Handelsfreiheit gewährt, allerdings standen dem kleinen, von Hunger und Umweltkatastrophen geplagten Völkchen nicht viele Mittel zur Verfügung, diese Freiheit zu nutzen. In offenen Booten gingen sie dem Fischfang in den Fjorden und im Küstenbereich nach, während ausländische Fischfangflotten etwas weiter draußen die dicksten Fische an Bord zogen ‒ eine Situation also, wie sie in vielen Regionen dieser Erde weiterhin Praxis ist. Einfahrt in die Fjorde und Landung war den ausländischen Schiffen nur in Notfällen erlaubt, allerdings fehlten Mittel und Personal, dies zu kontrollieren, und sowohl Dänemark wie die wenigen dänischen Verwaltungsbeamten in Island hatten wenig Interesse, hier einzugreifen.

Frankreich schickte Fischer aus der bettelarmen Bretagne ins Eismeer; sie kamen meist auf kleinen Zweimastschonern. Ab und an kam ein Schiff der französischen Marine vorbei:

Der Kreuzer hatte jetzt gestoppt und war aus weitem Umkreis von der Plejade der Isländer umgeben. Von jedem ihrer Schiffe ward eine Nußschale von Boot herabgelassen, die langbärtige Männer in ziemlich wildem Aufzug an Bord brachten. Fast wie Kinder hatten sie alle um etwas zu bitten: um Verbandzeug für kleine Wunden, Flickzeug, Nahrungsmittel, Briefe.(aus Pierre Loti: Die Islandfischer, verfasst 1886)

Als Isländer bezeichnen sich in der Erzählung des Marineoffiziers und Schriftsteller Pierre Loti die bretonischen Fischer selbst. Und in der Tat war ihre Situation kaum besser. Sie waren der offenen See schutzlos ausgeliefert, während die isländischen Fischer in ihren Nussschalen bei Sturm nur allzu oft kenterten, bevor sie den Heimathafen erreichten.

Die bretonischen Fischer müssen große Augen gemacht haben,als sie La Reine Hortense in den Dýrafjörður einlaufen sahen. Prinz Napoléons ging in der kleinen Handelsniederlassung Þingeyri an Land. Der Prinz trat auch hier sehr liebenswürdig auf, verteilte verschiedene Geschenke und stach dann in See‟, berichteten die Zeitungen.

Nun war auch dem letzten Isländer klar, was der Prinz bezweckte, denn bereits im Jahre zuvor hatte der Kapitän des Kreuzers La Bayonnaise, der die französischen Fischerboote beaufsichtigte, das Alþingi, das isländische Parlament, im Auftrag verschiedener Kaufleute aus Dunkerque um Erlaubnis ersucht, eine Art Kolonie im Dýrafjörður zu errichten, um die Fänge gleich vor Ort verarbeiten zu können. Schuppen, Trockenplätze für den Kabeljau und Unterkünfte für die Arbeiter sollten dafür errichtet werden. Anfänglich war von 400-500 Männern die Rede, dann aber von einer vergrößerten Fischfangflotte (800-900 Schiffe mit 10.000 Mann Besatzung) und 1000 Arbeitern an Land es war der Plan, so empfanden es viele Isländer, den Dýrafjörður zur französischen Kolonie zu machen.

Und ein wenig erinnert der großzügige Auftritt des Prinzen an das Vorgehen gewisser Multikonzerne, die kommunalen Behörden ihre nicht gerade umweltfreundlichen Produktionsstätten für Aluminium, Silizium & Co. schmackhaft machten. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Isländer noch auf der Hut. Sie hatten zwar erreicht, dass ihr Alþingi wieder tagen konnte, doch ihre Unabhängigkeitsbestrebungen waren erst einmal gescheitert und Island blieb weiterhin dänische Kolonie. Und jetzt wollte Frankreich auch noch ein Stück des Landes kolonisieren das war zu viel. Bewohner und regionale Behörden im Bezirk Ísafjörður lehnten das Projekt in Bausch und Bogen ab, und in Þingeyri stellte man eine beachtliche Liste von Bedingungen auf, die u.a. Zölle, Gebühren für die Verarbeitung, Landnutzung und Rechtsstellung der französischen Arbeiter betrafen, auf die die Franzosen aber wohl niemals eingegangen wären. (Der Handelsplatz Þingeyri zahlte nach dem Zensus von 1855 gerade mal 14 Einwohner, von denen die Hälfte Kinder waren, während im Haukadalur auf drei Höfen immerhin 47 Menschen lebten.)

Während die Behörden in Dänemark keineswegs abgeneigt waren, den Franzosen die Lizenz zu erteilen, sammelte ein Ausschuss des Alþingi in jahrelanger Arbeit weitere Argumente, die gegen das Kolonialprojekt sprachen: Die Isländer würden gerade die ersten gedeckten Boote für den Kabeljau- und den Haifang einsetzen, konkurrenzfähig seien sie aber noch lange nicht. Auch befände sich das vorgesehene Land bei Þingeyri im Kirchenbesitz und es sei gänzlich ungewiss, auf welche Weise das Land verpachtet oder verkauft werden könne. So erfolgte schließlich der Ablehnungsbeschluss durch das Alþingi, den der dänische König zu Beginn der Fangsaison 1859 mit Brief und Siegel bestätigte.

Blick ins Haukadalur (Bild: Bernhild Vögel)

Die französischen Fischer aber kamen bis ins frühe 20 Jahrhundert in die fischreichen Gewässer vor den isländischen Westfjorden. Nicht wenige Schoner kenterten, nicht wenige Männer verloren bei der harten und gefahrvollen Arbeit ihr Leben. Gegen eine Art Hafengebühr konnten die französischen Fischer schließlich doch in der Bucht Haukadalsbót ankern und mit den Einheimischen Waren tauschen ‒ sogar eine Mischsprache, das Haukadalsfranska, entstand. Die Toten durften an Land bestattet werden ‒ ein kleiner, sorgfältig restaurierter Friedhof am Rande des Haukadalurs zeugt noch heute davon. Ein Friedhof, wie ihn Pierre Loti beschrieb:

In einem Fjord an der Küste gibt’s aber auch einen kleinen Gottesacker, fuhr er fort. Dort begraben wir die Leute, die während des Fischfangs an Bord sterben. Es ist geweihte Erde, so gut wie hier bei uns, und man setzt den Toten ein Holzkreuz mit dem Namen auf ihr Grab. …

Der Friedhof der französischen Fischer im Haukadalur (Bild: Bernhild Vögel)

Die Holzkreuze verwitterten, Namen und Zahlen der Toten haben sich verloren.

Aux sombres héros de l’amer
Qui ont su traverser les océans du vide,
A la mémoire de nos frères
Dont les sanglots si longs faisaient couler l’acide

|: Always lost in the sea

Tout part toujours dans les flots
Au fond des nuits sereines
Ne vois-tu rien venir ?
Les naufragés et leurs peines
Qui jetaient l’encre ici
Et arrêtaient d’écrire …

|: Always lost in the sea

Ami, qu’on crève d’une absence
Ou qu’on crève un abcès
C’est le poison qui coule.
Certains nageaient
Sous les lignes de flottaison intime
A l’intérieur des foules.

|: Always lost in the sea

 

Aux sombres héros de l’amer, Komposition von Noir Désir, einer französischen Rockband, 1989.