Requiem der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft

Ónytjungur kam nach einer langen beschwerlichen Reise zurück zu seinem alten Freund Aldavinur.

Aldavinur: „Willkommen, alter Freund. Was weißt du neues zu berichten aus der Welt der Wesen?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gab es in der Vergangenheit das Gegensatzpaar Betriebsblindheit und Querdenker.“

Aldavinur: „Ist mir geläufig.“

Ónytjungur: „In der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft wurden diese eindeutigen Begriffe nun in eine Art Dreisatz umgewandelt.“

Aldavinur: „Dreisatz?“

Ónytjungur: „Ja, was vordem ein Breitmaulfrosch, wird nun  Querdenker genannt …“

Aldavinur: „… aber innerhalb von Anführungszeichen …“

Ónytjungur: „… mag sein, jedoch wer achtet heutzutage noch auf das Kleingedruckte, der gute Ruf ist damit endgültig ruiniert, und was einstmals Betriebsblindheit, ist nun aufgeklärter Mensch genannt.“

Aldavinur: „Will sagen, der ehemals Querdenker genannte Typ ist ausgestorben?“

Ónytjungur: „Nicht vollständig, es soll noch solche geben, welche zu systematischer und umfassender Untersuchung fähig. Dir dürfte ja der Unterschied zwischen Generalist und Spezialist geläufig sein.“

Aldavinur: „Nun, der Spezialist dringt in die Tiefe, weiß daher von immer weniger immer mehr, bis er von nichts alles weiß, hingegen der Überflieger von immer mehr immer weniger weiß, bis er von allem nichts weiß.“

Ónytjungur: „Allerdings ist sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft nunmehr darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten.“

Aldavinur: „Sie gedenkt ihrer selbst in einer Missa pro defunctis, einer Messe für die Verstorbenen? Aus welchem Grund, sie lebt doch noch?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gibt es einen Unterschied zwischen der scheinbaren Welt und der realen Welt.“

Aldavinur: „Wie meinen?“

Ónytjungur: „Nun, wenn ich zum Beispiel eine Zigarette schmauche, dann ist die Welt für mich persönlich in Ordnung, mein Körper hingegen sieht das nicht so.“

Aldavinur: „Was willst du mir damit sagen?“

Ónytjungur: „Dass bereits dieses Beispiel zeigt, dass es eine scheinbare Welt und eine reale Welt gibt. Die Frage ist nur, in welcher sich einer aufhalten möchte.“

Aldavinur: „Schön und gut, und in welcher möchte sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft aufhalten?“

Ónytjungur: „In der scheinbaren Welt.“

Aldavinur: „Es scheint also der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft, dass sie verstorben sei.“

Ónytjungur: „Das genaue Gegenteil ist der Fall, sie sieht sich in ihrer Blütezeit. Demokratie und Wissenschaft hätte sie emporgehoben aus den Niederungen primitiver Völker und ihre Welt mit Wohlstand und Freiheit angefüllt.“

Aldavinur: „Ist dem nicht so?“

Ónytjungur: „Das kommt auf den Blickwinkel an. In der realen Welt wäre einer sofort zu den Schwachsinnigen gezählt werden, würde er solchen groben Unfug behaupten, in der scheinbaren Welt hingegen erfreut er sich dem zustimmenden Nicken abhängiger Kreaturen, was er irrtümlich als Bestätigung auffasst, statt Ausdruck vorhandener Betriebsblindheit.“

Aldavinur: „Soso.“

Ónytjungur: „Den Gazetten – vormals Quelle faktenbasierter Informationen, auf professioneller Recherche beruhend -, war aufgefallen, dass die Leser am liebsten jenen Gockel hören, der am lautesten kräht …“

Aldavinur: „… was er gewöhnlich auf einem Misthaufen tut …“

Ónytjungur: „… und da die Masse durch faktenbasierte Information zu einer mentalen Leistung aufgefordert wird, welche unter dem Begriff Differenzierung zusammengefasst, daher sehr schnell die Lust verliere,  abwinke, und zu mehr zugänglicheren Themen flüchte …“

Aldavinur: „…  die Sensationslust ist dem aufgeklärten Menschen heilig …“

Ónytjungur: „… daher sich die Gazetten genötigt sahen, die nächste Sensation mit so genannten Schlagzeilen rauszuhauen …“

Aldavinur: „… nach dem Credo ‚Mutter zerstückelte ihre Kindern, BILD sprach zuerst mit den Frikadellen‘, bestens bekannt …“

Ónytjungur: „…  statt die Breitmaulfrösche es unter sich aushandeln zu lassen …“

Aldavinur: „… was aber als Unterdrückung von Meinungsfreiheit aufzufassen wäre, wie du weißt …“

Ónytjungur: … was allerdings eine Behauptung, die grober Unfug ist, Es gibt zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung, von einer Pflicht, auf diese auch einzugehen, ist mir nichts bekannt, und da die Informatik den Breitmaulfröschen hierzu vor etlichen Jahren extra Foren wie Twitter und Instagram geschaffen hatte, auf denen sie sich ihren geistigen Müll gegenseitig um die Ohren hauen können  …“

Aldavinur: „… wohl eher um die Augen …“

Ónytjungur: „… demnach Foren, welche unter Missachtung der Definition des Adjektivs sozial, was bekanntlich eine gemeinnützige, hilfsbereite und barmherzige Handlung bezeichne, in einer kaum noch zu überbietenden Hybris ausgerechnet Soziale Netzwerke genannt wurden, so dass keinem ein Schaden daraus entstehe, folglich bräuchten die Gazetten gar nicht mehr den Sermon der Breitmaulfrösche zu verbreiten, welcher geboren aus Aufregung und Gegenaufregung.“

Aldavinur: „Womit aber die Behauptung nicht erklärt, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten, geschweige denn, was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt.

Ónytjungur: „Gemach, gemach. Verhält es sich nicht so, dass unabhängig vom Herrschaftssystem, nenne sich dieses nun Monarchie, Diktatur oder Demokratie – wobei unter den Wort Demokratie die Aufforderung zu verstehen ist, es habe sich die Nation dem Mehrheitswillen zu unterwerfen, unabhängig davon, von welchem Wahn die Mehrheit gerade heimgesucht werde -, Menschen zu Abertausenden ermordet werden?     

Aldavinur: „Es ist nicht zu leugnen, dass bei einem Vergleich des Verhältnisses der Summe an Getöteten, die im Namen des Guten und im Namen des Bösen ihr Leben verloren, mehr Sorge angebracht wäre wegen jener, die nicht als Verbrecher angesehen.“

Ónytjungur: „Es wird auch kolportiert, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; demnach der Kulminationspunkt im Übergang von der Dummheit zur Aufregung.“

Aldavinur: „Ist es doch die erstrebenswerte Aussicht selbst, welche die Einsicht verhindert.“

Ónytjungur: „Weiterhin, trifft es zu, dass im Verhältnis zur Gesamtheit der Weltbevölkerung  die überwiegende Mehrheit um das Existenzminimum zu kämpfen hat, während einige Leute, welchen unverständlicherweise auch noch Achtung widerfährt, nicht mehr wissen wohin mit all dem Vermögen, welches sich diese angehäuft haben, sich in das Weltall mit Raketen schießen, sich Jachten zulegen, welche mehr einem Kreuzfahrtschiff gleichen als einer Jacht?“  

Aldavinur: „Sozialneid, willst du hier dem Kommunismus oder Sozialismus die Stange halten?“

Ónytjungur: „Keineswegs. Ist es doch gerade der Ismus, der eine an sich vernünftige Idee ins Unvernünftige überführt. Neige ich zu Glaubenssystemen, handelt es sich nicht dabei um eine Landenge, welche zu beiden Seiten von Wasser begrenzt? Vielmehr wäre eine Kleptokratie zu konstatieren, welche von einer Ochlokratie als notwendiges Übel geduldet. Wären diese Ignoranten im Weltall geblieben, es wäre kein Schaden für die Menschheit entstanden.“

Aldavinur: „Zugegeben, die Analogie ist frappierend, allerdings handelt es sich bei einer Landenge um einen Isthmus und nicht um einen Ismus. In aller Regel handelt es sich bei einem Ismus um eine Idee, einen realen komplexen Sachverhalt durch Simplifizierung dahingehend zu nutzen, um sich selbst via Indoktrination in die Position des Herrschers zu manövrieren.“

Ónytjungur: „Die Welt, das wirksame Geschenk, bietet auch die Möglichkeit, von Menschen vorübergehend als Irrenhaus genutzt zu werden. Um irgendeiner Sache willen.“

Aldavinur: „Schon gut, schon gut. Ich weiß Bescheid. So verwies zum Beispiel die generalisierte Eigenschaft Humanismus über die „Bill of Rights“ in die Reservate, über die Demokratie zur Guillotine, und da nicht ausreichend genug, übers Credo der Atombombe zum Clash of Civilisations.

Ónytjungur: „Dies geschah und geschieht im Augenblick, obschon im Gegensatz zu früher, als es noch keine Autos, Flugzeuge, Zeitungen, Radios, TV-Geräte und Internet gab, so dass Kinder betteln mussten ‚Papa, Papa, nimm mich mit ins Nachbardorf, ich will die Welt sehen‘, heutzutage die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft bis zum Abwinken mit einer Informationsüberflutung überschwemmt wird, diese sich desinteressiert heilsuchend in Shows und sonstiger geistiger Unterforderung flüchtet.“

Aldavinur: „Nun, der durch Mehrheit bestimmte Zustand einer Republik lässt sich an jenem Geisteszustand messen, der durch tägliche Einschaltquoten dokumentiert. So wird zum Beispiel unter dem Wort Privatfernsehen ein Zeitgeist verstanden, in welchem heuchlerische Zyniker erbärmlichen Charakteren eingebildete Naivlinge zu präsentieren haben, da zum Einen ein ungeheurer Bedarf danach vorhanden, und zum Anderen sonst die Rechte der Aufklärung auf freie Meinungsäußerung, auf Pressefreiheit, und auf bedarfsgerechte Grundversorgung verletzt werden würden.“

Ónytjungur: „Der das Loch in den Schiffsbauch bohrte, verlangt nach der billigsten Schwimmweste.“

Aldavinur: „In einer Welt der Konsequenzen wähnt – in Hoffnung auf Inkonsequenz – der Mensch vorausschauend eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, rückblickend eine Welt des reinen Zufalls, und nennt diese seine Sichtweise – Evolution.“

Ónytjungur: „Konnte ich dir deutlich machen, wie ich zu der Behauptung komme, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten und was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt?

Aldavinur: „Nun, es erinnert mich an jene Episode, welche über einen Würfel erzählt wird. Ein Tröll starrte ungläubig auf den silbernen, glänzenden Widerstand in seinen Augen, veränderte seinen Standort, erkannte die quadratische, räumliche schwarze Struktur, bewegte sich abermals, bemerkte verblüfft den auftauchenden weißen Kreis im Schnittpunkt der Diagonalen, sinnierte über den nun silbernen oder doch schwarzen Gegenstand mit seinem nun existenten oder doch nicht existenten runden Fleck in der Mitte, reiste von der Umgebung zur Sonne, schlenderte dem am Horizont verschwindenden Lichtstrahl entlang, von Quanten zu Quanten hüpfend, prallte auf die offensichtlich gegenständliche Oberfläche, glitt in bestimmten Winkel auf die Netzhaut, wühlte sich ins spiegelnde Gehirn und erkannte sich erinnernd einen schwarz bemalten Würfel aus Holz. Der Tröll, da nunmal auf Reisen, rammte sich durch dessen Oberfläche, puhlte sich zwängend durch drückende Molekülkugeln, betatschte verinnerlicht zärtlich Atome, setzte sich rapide schrumpfend auf das winzige Elektron, umkreiste den kaum noch sichtbaren, weit entfernten Kern, fühlte seine plötzliche dunkle Einsamkeit in der entleerten Natur, rutschte panisch aus dem Würfel, grabschte kurzentschlossen nach ihm und irritierte den Barkeeper: Würfeln wir einen aus?

Ónytjungur: „Was willst du mir damit sagen?“

Aldavinur: „Da es keine Wege gibt, auf denen sich nichts erfahren ließe, wäre jede Vorschrift über erlaubte und unerlaubte Wege Ausprägung vorhandenen Unwissens, gibt es doch nur nützliche und nutzlose Wege, und wer könnte da wissen, wo doch Nutzen nur Nutzen sein kann, wenn durch ihm kein Schaden bedingt, und auch jeder Weg nur ein einziges Mal begangen wird, da er danach für niemandem mehr begehbar wurde.“

Ónytjungur: „Ich verstehe nur Bahnhof.“

Aldavinur: „Ich will dir damit sagen, dass ich über keinerlei Antworten verfüge. Ich wäre schon froh, wenn es mir gelänge, die richtigen Fragen zu stellen. Magst du mit mir ein Lied singen??

Ónytjungur fasste Aldavinur bei der Hand, beide tanzten einen Reigen auf ihrem Stein und sangen dazu das Lied über die Weisheit:

Wollte sie sich
beschreiben,
sie beschriebe sich
als zwangseingewiesener
Patient,
auf Krücken
durch Korridore
einer Irrenanstalt
humpelnd,
und nicht
als deren
Psychiater.

Wäre ich weise,
oder wenigstens intelligent,
ich befände mich nicht
an jenem Ort
zwischen Traum und Wachsein,
vom Schlaf in den Tag flüchtend,
und vom Tag in den Schlaf.

Ein Weihnachtsmärchen

Da die nächsten Tage allgemein mit dem Eigenschaftswort „besinnlich“ verknüpft werden, gewährt bekanntlich die Trollfrau Gryla auf Island alljährlich ab dem 12. Dezember ihren 13 Söhnen (Jólasveinar) Freigang, jeden Tag ein weiterer, welcher sich daraufhin unters Volk mischt:

12. Dezember    Stekkjarstaur – ist vor allem an der Milch der Schafe interessiert
13. Dezember    Giljagaur – er mag sehr gerne den Schaum der Kuhmilch
14. Dezember    Stúfur – schätzt angebrannte Reste in einer Pfanne
15. Dezember    Þvörusleikir – schleckt gerne Kochlöffel blitzblank
16. Dezember    Pottasleikir – macht sich an den Resten in Kochtöpfen zu schaffen
17. Dezember    Askasleikir – schätzt den Inhalt hölzener Schüsseln (Askur)
18. Dezember    Hurðaskellir – schlägt am liebsten laut Türen zu
19. Dezember    Skyrgámur – ist gierig nach isländischem Skyr (nicht zu verwechseln mit dem, was in Deutschland fälschlicherweise unter dem Namen „Skyr“ verkauft wird!)
20. Dezember    Bjúgnakrækir – macht Jagd auf geräucherte Würste
21. Dezember    Gluggagægir – glotzt gerne durch Fenster in Wohnungen (was auch gerne Passagiere einlaufender Kreuzfahrtschiffe tun)
22. Dezember    Gáttaþefur – schnüffelt gerne nach frischem Weihnachtsbrot (Laufabrauð)
23. Dezember    Ketkrókur – schon ist der Weihnachtsbraten futsch
24. Dezember    Kertasníkir – klaut Kerzen.

Da die isländischen Kinder dies wissen, stellen sie jeden Abend während der 13 Tage ihre Schuhe auf den Fenstersims, für den Fall, dass die Trolle etwas mitbringen. Das kann gut gehen, oder auch nicht, denn die Trolle überreichen ihre Gabe in Abhängigkeit davon, ob das Kind Unsitten hat einreißen lassen oder das Jahr über gesittet handelte. Gab es Anlass zur Beanstandung, so fand das Kind am nächsten Morgen eine Kartoffel im Schuh, als Zeichen dafür, dass es bitte nächstes Jahr etwas zur Besinnung kommen möge.

Nun, der aufgeklärte Mensch der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft mag dies für ein Märchen halten. Allerdings sind Isländer abwägende Menschen, und gehen lieber auf Nummer sicher, was dazu führt, dass Straßen in Ísland gelegentlich einen Bogen um einen Findling machen, denn es könnte sich ja darunter ein Tröll befinden, und deren Rache ist allgemein gefürchtet. Man weiß ja nie …

Die überwiegende Masse der aufgeklärten Menschen außerhalb von Ísland tangiert das nur peripher. Genügt diesen doch – so ist zu lesen – bereits der Glaube zu wissen, wo der Bartl den Most holt, so dass auch Halbwissen vollauf genüge, um sich sein Vorurteil bilden zu können; in der Regel auf simplen Pauschalisierungen gegründet, denn es wäre doch eindeutig zu viel verlangt, sich auch noch um eine differenzierte Betrachtungsweise bemühen zu sollen.

Und somit steht nicht zu befürchten, dass einer einen Schaden dadurch erleide, würde dem isländischen Märchen ein weiteres Märchen aus einem anderen Land hinzugefügt. Das Märchen von Oumi Khadischa.

Jenseits des Begriffs „Kulturen“, dem Plural eines heiß umworbenen, strittigen und daher undefiniertem Singulars, den irgendwelche Dumpfbacken 1996 zum Anlass nahmen, von einem „Kampf der Kulturen“ (The Clash of Civilisations) zu faseln, um sich als hilfreiche „Weltpolizei“ aufspielen zu dürfen, wäre schon viel gewonnen, sollte einem Leser im Bedarfsfalle auch noch dämmern, dass der Plural von „Kultur“ und allem, was damit aus niedrigen Beweggründen heraus kolportiert wird, nur grober Unfug sein kann. Was da bisweilen mit dem Plural „Kulturen“ kolportiert wird, erfüllt noch nicht einmal die Mindestanforderungen an eine „Zivilisation“, da eine solche zwischen „Zivilisation“ und „Sitte / Brauch“ zu unterscheiden wüsste, wie zum Beispiel das isländische Wort „menning“ (Kultur) belegt, welchem im Kontrast hierzu signifikante Benennungen gegenüberstehen: háttur, lenska, siður (Brauch/Sitte), siðvenja (Tradition), vani (Angewohnheit, Gepflogenheit, Gewohnheit) und venja (Praxis).

Oumi Khadischa war die Urenkelin jener Frau, zu deren Ehren zwischen Menzel Bourguiba und Mateur auf einem Hügel ein Marabout errichtet wurde, welcher ihren Leichnam birgt.  Zu diesem Marabout führen genau 100 Stufen und jede Stufe hatte eine gewisse Bedeutung. Unten, neben der ersten Stufe, war ihr Ehemann bestattet. Nun, dies ist weder eine Herabwürdigung noch eine Geringschätzung. Verhält es sich doch so, dass in jener Gemeinschaft, welche das Marabout für Oumi Khadischas Urgroßmutter errichtete, die Frau der Herr im Haus ist und der Ehemann nur Gast. So darf der Ehemann in jener Gemeinschaft nur jemanden in das Haus einladen, wenn er vorher seine Ehefrau gefragt und diese es gestattet habe. Seine Ehefrau hingegen kann einladen wen immer sie will, ohne ihren Ehemann fragen zu müssen. Ist dem Ehemann der Gast nicht willkommen, so verweist ihn die Ehefrau auf seine Möglichkeit, die ihm frei stehe und niemand übel nehmen werde: Das Haus hat zwei Türen.

Es handelt sich demnach nur um die Fortsetzung dieser Regel über den Tod hinaus, ist doch das Marabout das Haus von Oumi Khadischas Urgroßmutter, welches auch oft von zahllosen Leuten aufgesucht wird und diese auch alle stets willkommen sind, da diese sich spirituellen Beistand erbitten. Allerdings könnte der Ehemann nicht mehr die Möglichkeit der zwei Türen nutzen, sollte ihm ein Besucher missfallen.

Zu Lebzeiten war es für beide viel einfacher. Er ging außer Haus und kam nach der Verabschiedung des Gastes wieder zurück. Sollte der Besucher hingegen unerwartet vor der Tür stehen und als Gast für beide Ehepartner nicht willkommen sein, so verbietet es die gute Sitte, den Besucher abzuweisen. Der Besucher wird folglich freundlich hereingebeten und erhält wie jeder Gast zuerst einen arabischen Kaffee, bevor der Plausch beginnt.

Kaffee ist bekanntlich jenes Getränk, welches die Eigenschaft besitzt, den Blutkreislauf etwas anzuregen, womit das Gehirn etwas besser durchblutet wird, was geeignet ist, die geistigen Fähigkeiten zu fördern. Einst aus Äthiopien von Karawanen durch die Wüste in den Norden transportiert, trat der Kaffee seinen Siegeszug in die ganze Welt an, von den arabischen Ländern über die Türkei nach Wien, um dann in Folge – vom Wiener Cafe ausgehend – in so seltsamen Establishments jämmerlich und geschmacklos  zu verenden, welche so unverständliche Namen wie zum Beispiel „Starbucks“ tragen.

Dieser Brauch, bei arabischem Kaffee zu plauschen, eröffnet den beiden Ehepartnern die Möglichkeit, dem Besucher nonverbal mitzuteilen, dass er hier in diesem Haus unerwünscht sei. Verhält es sich doch so, dass in arabischen Ländern der Kaffee aromatisiert getrunken wird, somit nicht nur Kaffee und Zucker in das Wasser gegeben wird, sondern auch Kardamom, Rosenwasser, etc., je nach Gusto. Wird allerdings ein ungebetener Gast bewirtet, so kommen die Aromen bei der Zubereitung des Kaffees nicht in den Kaffeepott, sondern in die Tassen, mit Ausnahme jener Tasse selbstverständlich, welche der Besucher bekommt. Ist der Besucher intelligent, wird er von weiteren Besuchen Abstand nehmen. Böse Zungen behaupten, dass dies die Ursache sei, warum der Kaffee in arabischen Ländern aromatisiert getrunken wird und in der Türkei nur als Mokka.

Doch nicht nur die Aromen ermöglichen bei Zusammenkünften eine nonverbale Kommunikation. Begibt sich zum Beispiel ein junger Mann auf Brautschau, so ist es gute Sitte, dass der junge Mann mit seinem Vater um die Hand der Tochter bei deren Vater anhält, denn es gebietet der Respekt, dass entscheidende Unterhaltungen auf Augenhöhe stattfinden, also zwischen einer Generation, und nicht zwischen einer Generation und einer nachgekommenen Generation. Der Plausch beginnt mit dies und das, denn es gilt als unfreundlich, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Dies gibt der Angebeteten die Möglichkeit, den arabischen Kaffee zuzubereiten. Was tut diese? Sie entscheidet, ob der Zucker in den Kaffeepott kommt, oder in die Tassen. Möchte sie den Antrag des jungen Mannes annehmen, so kocht sie den Kaffee mit Zucker, lehnt sie den Antrag des jungen Mannes ab, so kommt der Zucker in die Tassen, allerdings nicht in die Tasse des jungen Mannes. Ist der Bursche intelligent genug, dann signalisiert er seinem Vater, dass er noch einen anderen wichtigen Termin habe, womit die Väter den Plausch ausklingen lassen und sich voneinander verabschieden. Ist jedoch der Kaffee des Burschen gesüßt, signalisiert er seinem Vater, dass seine Angebetete den Antrag annehmen werde. Die Besprechung der Hochzeit kann beginnen.

Allerdings stürzt sich damit der junge Mann in erhebliche Schulden, muss er doch vor der Hochzeit das Brautgeld in Gold bei seiner Angebeteten abgeben. Menschen, bei denen das Maul größer ist als das Wissen, erzählen gerne, es würde die Braut damit verkauft wie Kamele und das Gold von den Eltern der Braut vereinnahmt. Sie verkünden damit nur ihr Unwissen, denn tatsächlich verhält es sich bei jener Gemeinschaft so, dass das Gold tatsächlich die Braut erhält, es ihr ungeteiltes Eigentum bis an ihr Lebensende bleibt, denn es handelt sich bei dem Gold um die Absicherung der Ehefrau für jenen Fall, bei dem sich der Bursche später als wankelmütiger Geselle herausstellt, sich woanders herumtreibt statt wie versprochen bei seiner Ehefrau, demnach um den vorgezogenen Scheidungsunterhalt. Dieses Gold gehört der Frau allein und ist niemals Gegenstand einer Erbschaft. Die Frau selbst ruft später, bevor sie stirbt, am Krankenbett die Begünstigten nach ihrer Wahl zu sich und gibt jedem Gerufenen nach eigenem Gutdünken einen Teil des Goldes.

Da es sich in diesem Land allerdings so verhält, dass die jungen Menschen nicht so vermögend sind oder sogar arbeitslos, damit den jungen Burschen ein großes Unrecht zugefügt wird, da sie somit nicht heiraten können, andererseits der Angebeteten großes Unrecht zugefügt wäre, müsste sie auf ihre Absicherung verzichten, traf Oumi Khadischas Urgroßmutter eine Entscheidung, welche seitdem gute Sitte in jener Gemeinschaft  ist. Sollte die Braut auf das Gold selbst verzichten wollen, steht es ihr frei, bei allen Familienangehörigen um kleine Münzen zu bitten, bis sie 69 Miilimes eingesammelt hat. Diese übergibt sie dann ihrem zukünftigen Ehemann, auf dass er die 69 Millimes ihr öffentlich als sein Brautgeld überreichen könne. In diesem Fall ist jeder Familienangehörige dazu verpflichtet, die Hochzeit zu billigen und kraftvoll zu unterstützen.

Oumi Khadischa  war es immer eine Lust, in Pariser Geschäften den für sie passenden Schal auszusuchen; modisch genug hatte er zu sein, um ihre Weltoffenheit preiszugeben, jedoch in Farben gehalten, die ihrer tiefen Verbundenheit mit der Natur nicht widersprachen. In seiner Aufmachung und Ornamentik war dabei auf den Status ihres Stammes genauso zu achten, wie auf die Stellung, die sie innehatte. Seit sie den Titel Hajji sich erwarb, bevorzugte sie als Zeichen ihrer Würde nur noch jenen weißen Schal, der nur einer Hajji zustand.

Eines Tages, sie wollte nach ein paar Jahren wieder Europa besuchen, bat sie darum, ihr die für Besuche in Deutschland erforderliche Bürgschaftserklärung zuzusenden, da sie noch einmal reisen möchte, um die neuen Enkelkinder zu sehen, bevor sie sterbe.

Im Zuge von 9/11 hatte jedoch das deutsche Auswärtige Amt mit der tunesischen Regierung vereinbart, dass Tunesier, die ein Touristenvisa bei der deutschen Botschaft in Tunis beantragen, nun persönlich in der dortigen Visa-Abteilung zu erscheinen hätten, ungeachtet des Alters der Person, und selbst ihre Papiere vorzulegen haben. Weibliche Besucher dürften dabei im Gegensatz zu früherer Praxis die deutsche Botschaft nur noch ohne Kopfbedeckung betreten.

So machte sich Oumi Khadischa , schon von ihrer schweren Krankheit gezeichnet, notgedrungen selbst auf den Weg nach Tunis, um sich in die Schlange der Antragssteller einzureihen, die bereits lange vor Sonnenaufgang vor dem Eingang der deutschen Visa-Abteilung ausharrten, um innerhalb der Öffnungszeiten noch ihren Antrag einreichen zu können, und nicht nach vergeblichem stundenlangen Warten vor dann verschlossenen Türen unverrichteter Dinge wieder heimkehren zu müssen.

Als sie nach mehreren Stunden endlich an dem vor dem Eingang wachhabenden Polizeibeamten stand, forderte dieser sie weisungsgemäß auf, ihren Schal abzulegen, da das Betreten der Visa-Abteilung nur ohne Kopfbedeckung erlaubt sei. Oumi Khadischa  fragte ihn, ob er denn wisse, mit wem er da spreche, und ob man ihm als Kind nicht den Respekt beigebracht hätte, den man alten Frauen schuldig sei. Das brachte den jungen Polizeibeamten in arge Verlegenheit, war er doch nur ein junger Bursche, sie hingegen eine alte Frau, noch dazu eine Hajji, welcher er damit bereits aus zwei Gründen Respekt entgegenzubringen hatte; auch erregte der Disput bereits die Aufmerksamkeit der umstehenden Neugierigen.

In seiner Not erklärte er Oumi Khadischa , dass er seinen Job verlieren würde, sollte er sie mit dem Schal in die deutsche Botschaft lassen. Da nahm sie plötzlich den Schal ab, drückte diesen dem jungen Burschen in die Hand, und trug ihm auf, ihren Schal solange in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, auf ihn sorgfältig aufzupassen und ihn ja nicht aus den Händen zu geben, bis sie aus der deutschen Botschaft zurückgekehrt sei.

Ließ den jungen Mann mit hochrotem Kopf zurück, auf das Peinlichste vor allen Umstehenden bloßgestellt; ein stattlicher junger Kerl in Uniform, der Öffentlichkeit preisgegeben, ausgerechnet mit einem Damenschal in seiner Hand, noch dazu mit einem Schal einer Hajji, als respektabler Polizist, als Respektsperson, nun von allen Wartenden grinsend begafft.

Als Oumi Khadischa  aus der Visa-Abteilung zurückkehrte, nahm sie ihren Schal wieder an sich, und fragte den Polizisten, ob er nicht genug Anstand hätte, da er sich bei ihr nicht bedanke; um dann dem Beamten, der nur verblüfft und fragend in seiner offensichtlichen Betretenheit die alte Frau anstarrte, zu erklären, dass sie ihm immerhin gerade seinen Arbeitsplatz gerettet habe.

Sagte es, und verschwand in der wartenden Menge; durch die weite Gasse, die ihr die Wartenden respektvoll anboten.

Verhält es sich doch so, dass der Polizist wie alle Menschen eine abhängige Kreatur ist, wozu ihm also zusätzliches und unnötiges Leid bescheren.

In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr.