Ist „lesen“ etwas anderes als eine Reise nach Innen? Vorneweg, eine Auseinandersetzung mit einem Text ist die eine Sache, darüber zu schwadronieren eine andere, zumal ein solcher Erguss hier nicht von einem Literaturkritiker abgefasst, sondern nur von einem simplen Leser.
Es mag sein, dass die Lektüre eines Textes, aus welchem Grund auch immer von einem Interesse ausgehend und angetrieben, im günstigsten Fall entweder zu eigenen Antworten oder eigenen Fragen führt. So geschehen bei der Lektüre des Romans von Wolfgang Schiffer, Titel “Die Befragung des Otto B.”, Claassen-Verlag, Düsseldorf 1974, ISBN 3-546-47965-3.
Stellte sich doch bereits zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Text die Frage, worin denn Sinn aufzufinden wäre, die darin beschriebenen Handlungen dem Netzwerk eigener Kategorien unterzuordnen. Zu dem Zwecke, die darin aufgezeigten Beweggründe den Schlachtungen der Inquisitoren auszuliefern?
Verhält es sich nicht so, dass sowohl bei der Auswahl einer Lektüre bereits eine eigene persönliche Entscheidung hinsichtlich „interessiert“ oder „unwichtig“ getroffen, als auch im Falle der Entscheidung „interessiert“ dann bei genauer Beobachtung stets nur jenes den Lesefluss stocken ließe, was im Widerspruch oder Einklang zu jenem stehe, welches einer zwar verzweifelt und vergeblich gesucht, allerdings ohne auch nur die geringste Ahnung hierüber zu haben, dass er eben diese Aussage der Textstelle verzweifelt und unwissentlich seit Langem gesucht habe, bis zu jenem Augenblick?
Wie anders wäre sonst das Phänomen erklärbar, dass zwei Leser dasselbe Buch mit großem Interesse lesen, anschließend über dessen Inhalte sich austauschen, mit dem Ergebnis, dass der eine Leser eine bestimmte Textpassage ausführlich zitiere, der andere Leser jedoch vehement bestreite, dass diese Textpassage im Buch auch nur ansatzweise vorkomme, denn auch er habe das Buch sehr aufmerksam gelesen und diese Textpassage keineswegs vorgefunden. Im Anschluss daran berichtet der andere Leser über eine andere Textpassage, zu welcher jedoch das Gegenüber vehement bestreitet …
Nun, eine Antwort wäre zum Beispiel dahingehend, dass sich einer die darin vorgefundenen Schöpfungen zu seiner eigenen Verblüffung während des Lesens zueigen machte bzw. vielleicht bereits vorher zueigen gemacht hatte, ohne hiervon auch nur die geringste Kenntnis zu haben, möglicherweise aus dem Grund heraus, da er selbst nicht die hierfür notwendigen und geeigneten Begriffe fand, um jenes zu fassen, was ihm wirklich erschien. Mit Schöpfungen sei hier daher nicht nur die erzählte Geschichte selbst gemeint, sondern auch die Schöpfungen an Begriffen und bislang einem selbst unbekannt gebliebener Zusammenhänge, welche Nachhall hinterließen.
Es ist in einem wissenschaftlichen Artikel davon zu lesen, dass ein Begriff wesentliche Merkmale von Dingen beinhalte, es würden Dinge mit gemeinsamen Eigenschaften (Merkmalen) in Kategorien zusammengefasst, Begriffe geschaffen und mit Namen bezeichnet, dabei sei der Begriff nicht der Name des Erfassten, aber man brauche diesen Namen, um Gedanken mitteilen zu können. Jenes, was einer aus dem Inhalt eines Wortes auffassen, kapieren (lat. capere = fangen, fassen, erfassen), begreifen könne, sei der Begriff. (Ital. capire!). Erste Orientierungspunkte bieten die im Text gewählten Benennungen (íðorð) und deren Beziehung zu Bezugsobjekt ( vísimið) und Begriff (hugtak).
Bereits die in der Erzählung aufgefundenen Begriffe zergehen einem auf der Zunge wie Sahnebonbons: „Geburtsdatenwiederholungen“, „Fehlvorstellung“, „eigennützige Anleitung“, „planlos gezeugt worden“, „patriarchalischer Größenwahn“, „unzumutbare Anmaßung“, „Religionsverkettungen“, „Glaube an die eigene Unfertigkeit“, „depressiver Träumer“, „produktiver Denker“, „eindrucksverweigernde Zimmerdecke“, „widerwillige Auferstehung“, etc.
Ferner – so ist im Kapitel 3 „Das Verhältnis von Begriff, Wort und Sprache“ von Dietrich Busse über „Wörter“ zu lesen – sei der Name, folglich das Wort (gr. logos, lat. verbum), also jede Vokabel nichts anderes als „die kleinste als selbständige Äußerung vorkommende Einheit der Sprache„. Indem einer spreche, nehme er auf Wirklichkeit immer schon Bezug, wenngleich sie in seinem Reden eigentlich erst entstünde. Jede Abbildtheorie der Sprache lebe von der Vorstellung, dass es jenseits menschlicher Wahrnehmungstätigkeit eine (vorsprachliche) Wirklichkeit gebe, die Bezugspunkt und Grundlage des Erkennens sei. Diese Vorstellung sei trivial, solange nicht übersehen werde, dass diese Wirklichkeit als angeeignetes, für uns bedeutungsvolles Resultat unserer Tätigkeit (sowohl sprachlicher, als auch außersprachlicher) ist. Die Gegenstände bedeuteten nicht an sich, sondern erst, indem mit ihnen umgegangen, praktisch wie sprachlich, und so einen Bezug zu ihnen entwickelt würde.
Weiterhin führt Dietrich Busse aus: „Ein Fokus auf das Einzelwort ist deshalb zu eng, da er dazu verführt, diese Zusammenhänge auszublenden. Das als Eines vorgestellte, der Gegenstand als das aufgrund einer nominalisierenden Sprachstruktur als einheitlich Missverstandene, zerfällt unter der Betrachtung der Rede in eine Vielzahl von Einzelheiten und Merkmalen, auf die in ihrer Gesamtheit kein Bezug genommen werden kann.
Die Rede als der Entstehungsort dieser dissoziativen Mannigfaltigkeit ist auch der Ort der Aufdeckung des reifizierenden [verdinglichend] Missverständnisses. Indem wir den Gegenstand zu beschreiben suchen (und das kann nach Wittgenstein nichts anderes sein, als die Wortverwendungen zu untersuchen) wird uns seine Mannigfaltigkeit, die tatsächlich eine Mannigfaltigkeit der sprachlich vermittelten Bezugsweisen ist, bewusst. Einheit des Gegenstandes ist so immer ein gewollter Akt der Definition des Gegenstandes für uns, und somit (als Akt der Ein- und Ausgrenzung) immer geleitet von allgemeineren (gegenstandsübergreifenden) Vorstellungen und Interessen.”
Wie auch immer, Otto B. lässt wie der Stagirit nur jene Begriffe als wissenschaftlich zu, welche durch Definition bestimmbar sind. Was zu einem beachtlichen Erfolg führt, wie die Definitionen des Otto B. zu den Wörtern “Arbeit”, “gewaltsame politische Veränderung” und “Sinnlosigkeit” eindrucksvoll belegen:
„Er stütze sich bei der Nennung des Begriffs Arbeit auf dessen volkstümlichen Gebrauch, der besage, nur das als Arbeit anzusehen, was jemand im Auftrag einer wie auch immer beschaffenen, übergeordneten Einflussnahme als einzelner und widerwillig in geregelten Zeitverhältnissen zur Erreichung eines festgesetzten Ziels vollbringe.“
“Er sehe dennoch eine gewisse Berechtigung in seinem Tun, gerade aufgrund der Sinnlosigkeit, die das Recht habe, sich gegen alle Sprüche, Mahnungen und Warnungen, Verbote und Verfolgungen dennoch zu praktizieren.”
„Dass eine gewaltsame ökonomische und politische Veränderung nichts anderes bewirken werde, als der Gewalt und Ausbeutung eine neue Form zu geben, solange sie von Menschen ausgefüllt und genutzt werde, deren Triebe und Bedürfnisse selbst durch die grundlegenden Ursachen für die Knechtschaft ihre Formung erfahren hätten.“
Zur Erzählung selbst wäre abschließend anzumerken, dass eine Erörterung von Literatur so genannten Literaturkritikern vorbehalten sei. Da weder Literaturkritiker, noch Leser von Literaturkritiken – um es mit den Worten von Otto B: auszudrücken: „Wer höre, gehört auch …“ -, wäre nur abschließend anzumerken, dass der Anlass und das Ergebnis der Befragung des Otto B. bis zur letzten Seite unbekannt bleibt. Wohl dem, der angesichts dessen die Kontrolle über sich behält und standhaft der Versuchung widersteht, zu Beginn am Ende des Buches erstmal nachzusehen, wie die Geschichte denn ausgehe. Wird solch Standhaftigkeit doch damit belohnt, dass zu dem Lesegenuss auch noch die stetig ansteigende Spannung hinzukomme.
Bliebe nur noch, Otto B. hinterher zu rufen, dass es sehr bedauerlich ist, dass er seiner Absicht gefolgt ist, sich bewusst dem Irrsinn des Schweigens verfallen zu lassen, damit er ihm vergessen helfe, um der Zukunft frei begegnen zu können. Denn, um es mit den Worten von Ludwig Hohl auszudrücken: “Die Menge denkt wenig. Drum eben sollten die Denkenden sie führen, nicht die Ausnützenden.” Allerdings schrieb Ludwig Hohl auch diesen Satz: “Es gibt nur ein Unglück: dass einer nichts zu tun hat oder gezwungen wird, etwas Falsches zu tun.”
Für Haptiker:
“Die Befragung des Otto B.”, Roman, Claassen-Verlag, Düsseldorf 1974, ISBN 3-546-47965-3