Wunsch, Möwe zu werden

Einöde

Der Anblick einer Möwenkolonie an einer Steilwand, wo auf jeweils wenigen Quadratzentimeter in „einer Andeutung von Nest“ eine Gattung dicht an dicht ihre Jungen aufzog, öffnete der Nichtmöwe Ulrich Schacht den schonungslosen Blick auf die eigene Gattung, und sie notierte für ihre Novelle „Grimsey“:

Wesen, denen der Mensch im Zuge einer hyperthrophen Entwicklung alles abgesprochen hatte, was nicht auf eine rein biologische Funktionalität hinauslief, waren sichtbar in Sorge umeinander, riefen sich an, erkannten einander.“

Was die Nichtmöwe zwar zu dem 2.500 Jahre alten Satz „So ist der natürliche Instinkt aller Wesen, die Seele haben“ von Demokrit führte, nicht aber zur Einsicht in ihr eigenes Selbst, wie seine Hetze gegen Menschen belegt, die um die Andeutung eines Nestes in seiner Kolonie betteln, da sie sonst ermordet oder versklavt werden würden.

Dieser Satz von Demokrit ist allein schon deshalb mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden, da einer Gattung überliefert, die zwar aus nachvollziehbaren Gründen heraus die Existenz einer Seele bei der Gattung Mensch in Abrede stellt, erst recht bei Nichtmenschen, nicht aber die Vorstellung aufzugeben gewillt ist, es müsse sich bei Depressionen um seelische Störungen handeln, und den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch dadurch elegant umschifft, indem sie das Wort im 20. Jahrhundert durch das Wort Psyche ersetzte, um nicht entlarvt zu werden. Was der Gattung als Nebeneffekt den unschätzbaren Vorteil brachte, das Symptom – sobald aufgetreten – als Krankheit, als affektive Störung ausgeben und der Psychiatrie übergeben zu können. Auf die Frage, aus welchem Grund solches notwendig sei, wird von dieser Gattung auf die Vernunft verwiesen, also dem Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie, einer Deus ex machina, was die Frage bereits per-se in jenen Bereich verweist, der jenseits von Vernunft angesiedelt. Die Ahnung ist daher eine gefährliche, dass es sich bei jenem rapide anwachsenden Teil der Gattung, welcher Depressionen ausgesetzt, sich nur um einen solchen handeln könnte, der noch über Nous verfüge, also der menschlichen Fähigkeit, etwas geistig erfassen zu können; was naheläge, da dieses Symptom ja vorwiegend in wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaften in solchem  Umfang auftritt. Was aber nicht naheliegend sein darf, selbst dann nicht, wenn es sich als begründet herausstelle, da die waltende Gottheit Vernunft dies ja gar nicht erst ermögliche, womit die Ahnung bereits als tätige Unvernunft nachgewiesen.

Und so dürfte nicht verwunderlich sein, dass sich immer noch Menschen auf die Reise begeben. Womit nicht gemeint, dass sich da einer von Ort A nach Ort B begebe, denn es wären damit jene mit einbezogen, die nicht über solchem Tun – als letzten noch verbleibendem Weg – nach Antworten auf drängende Fragen suchen, zu denen Artgenossen nur vorgaben, dass sie über Antworten verfügten, und die daher unbeantwortet blieben. Außenstehenden erscheinen solche, die diesen letzten noch verbleibenden Weg beschreiten, um darüber nach Antworten auf drängende Fragen zu suchen, gerne als Treibende oder Getriebene. Eine Unterstellung, aus Ahnungslosigkeit geboren, fehlt dem Treibenden doch das Ziel, und dem Getriebenen die Freiheit. Jener, der sich von A nach B begibt, als letzten noch verbleibendem Weg, verfügt sowohl über ein Ziel, als auch über eine Freiheit, denn jeder Schritt, wohin er sich auch wendet, bringt ihm sein Ziel näher. Es bringt ihm nicht nur sein Ziel näher, es kann auch gut sein, dass darüber auch die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit erhöht werde, was dazu führen kann, dass bald seine Antworten, fragte ihn einmal einer, für den Fragenden so unverständlich ausfallen könnten, wie vordem die Antworten der anderen, die nicht genügten.

Gut möglich, dass ein auf solche Art und Weise Reisender auf Island auf die Einöde eines anderen Reisenden trifft, auf dessen alleinstehenden Wohnplatz für eine Nacht, irgendwo im Hochland, weitab von bekannten „Trekking-Touren“. Denn er ist nie dort zu finden, wo jeden Tag eine Hundertschaft jeden Morgen ihre Stoppuhren stellt, bevor sie mit Teleskop-Stöcken dem nächsten Etappenziel entgegen hastet, um später vor ehrfürchtigen Zuhörern berichten zu können, sie hätte die Etappe Hrafntinnusker – Álftavatn in nur 3 Stunden geschafft, und es wäre hart gewesen, aber auch schon sowas von hart. Dabei aber vergessen zu erwähnen, dass er somit Teil einer dieser täglichen Hundertschaft war, die – sorgsam erst um sich blickend – ihre Abfälle irgendwo in der Lava vergraben, oder selbst noch diese Mühe scheuen, und Plastikflaschen, Verpackungen, etc. einfach so fallen ließ, das Land ist ja weit und unberührt, und der Wind wird es schon forttragen, aus den Augen der Nachfolgenden entfernen.

Nein, dort war er nicht auffindbar, und es ist zu vermuten, dass er dort auch nie aufgefunden werden wird. Er wüsste längst, so seine Antwort, dass auch diese nur vorgeben, über Antworten zu verfügen, und er suche nicht, was dort nur zu finden sei: die Selbsttäuschung. Dazu hätte er seine eigene Selbsttäuschung schon zur Genüge ausgekostet, sich falsche Tatsachen vorgespiegelt.

Bei einer Pfeife und einer Tasse Pfefferminztee erzählte er dann, er hätte sich eines Tages einer Reisegesellschaft angeschlossen, da es in jener Zeit noch undenkbar war, durch die Sowjetunion auf solche Art und Weise zu reisen wie auf Island, dass einer also nur vorwärts ginge, da jeder Schritt, wohin er auch getan, einem das Ziel näherbringe. Er sei danach wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, da es in jenem Land, von dem er herkomme, sich so verhalte, dass der Mensch von Arbeit nicht nur nicht satt werde, sondern sogar verhungern würde, er daher auf Erwerbsarbeit angewiesen sei. An seiner Wirkungsstätte, dem Max-Planck-Institut für Literatur der organischen und anorganischen Chemie eintreffend, um seine Arbeit an der Herstellung einer Literatur-Fakten-Datenbank fortzusetzen, sei ihm die ungewöhnliche Unruhe unter den Wissenschaftlern aufgefallen. Auf Nachfrage wäre ihm mitgeteilt worden, Messgeräte in Finnland hätten erhöhte Radioaktivität gemessen, und es werde angenommen, dass ein sogenannter Super-GAU sich ereignet haben müsse. Die Kolleginnen würden sich daher gerade Urlaub im Personalbüro genehmigen lassen, der diesen auch anstandslos gewährt werde, damit sie mit ihren Kindern nach Portugal fliegen können. Später sei dann in den Nachrichten bekanntgegeben worden, dass die Nuklearkatastrophe sich am 26. April im Kernkraftwerk Tschernobyl ereignet habe. Er hätte daraufhin die Wissenschaftler darüber informiert, dass er just in dieser Zeit mit einer Reisegesellschaft in einer Iljuschin der Fluggesellschaft Interflug über Tschernobyl geflogen sei, worauf diese ihm rieten, umgehend die nächste Apotheke aufzusuchen, um sich Jod-Tabletten zu beschaffen. Als er in der Apotheke nach Jod-Tabletten fragte, sei ihm mitgeteilt worden, dass diese ausverkauft seien. Die Apotheken im Umkreis hatten schließlich nicht damit rechnen können, dass an nur einem einzigen Tag alle Wissenschaftler des Forschungsinstituts Jod-Tabletten kaufen würden.

Auf die Frage hin, wie er dann zu der Ansicht käme, dass er sich falsche Tatsachen vorgespiegelt habe, setze er seine Geschichte fort. Die tiefe Sorge und Unruhe, die er bei den Wissenschaftlern feststellte, stand im krassen Gegensatz zu jenem, was in seinem Dorf stattfand. Zwar waren dort alle neugierig auf jede neue Nachricht, hielten jedoch die nicht enden wollenden und ständig wiederholten Beteuerungen, die ganze Angelegenheit sei weit weg passiert, und es bestehe kein Anlass zur Sorge,  für bare Münze. Er habe sich daher einer Gruppe angeschlossen, die aus eigener Tasche sich einen Geigerzähler kaufte, Messungen vornahm, und die Ergebnisse nebst ergänzender Erklärungen von Wissenschaftlern in einer eigenen Zeitung publizierte. Am ersten Jahrestag nach dem Unglück hätte er dann einen Nachruf verfasst, der sogar von einer Zeitung angenommen und veröffentlicht worden wäre. Denn er habe sich damals noch eine falsche Tatsache vorgespiegelt, in der Annahme, es wäre möglich, durch einen Text das Vergessen verhindern zu können. Und so habe er darüber jene Zeilen vergessen, von denen seine Gattung ausgehe, sie würden eine irreale Sicht skizzieren, und schloss seine Geschichte, indem er die Zeilen vor sich hin murmelte:

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“

Am nächsten Morgen war sein Zelt verschwunden. Nur ein gefaltetes Blatt Papier unter einem Stein blieb zurück, auf das er mit einem Bleistift „Unser Vergessen baut die Gitter“ geschrieben hatte. Als Begründung dafür, dass es besser für ihn war, sehr rechtzeitig aufzubrechen, denn er hätte, wie die Überschrift bewies, immer noch einen weiten Weg vor sich, um sein Ziel zu erreichen. In seinem Zweifel, ob Mutationen des Petkau-Effekts ihn ausgerechnet in eine Möwe verwandeln würde, seinen Wunsch erfüllend, Möwe zu werden,. damit endlich einer Gattung anzugehören, die noch sichtbar in Sorge umeinander, und auch noch nicht die Fähigkeit verlor, sich einander zu erkennen.

Unser Vergessen baut die Gitter

Am 26. April jährt sich zum ersten Mal die Möglichkeit des sogenannten Unmöglichen. Während weiterhin Menschen nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ genussvoll ihre Becquerels verzehren, und andere mit dem Kopf gegen die Wand rennen, um den schleichenden Mord aufzuhalten, reiht sich Unfall an Unfall, schreiten die verantwortlichen Optimisten mit beschwichtigenden Gesten über die Gräber der Opfer. Auch statistische Tote sind Tote. Dass die Sowjetunion aus Staatsräson über Leichen geht, ist nicht neu, dass die Bundesregierung ebenso Leichen in Kauf nimmt, ist schockierend, und nicht minder Barbarei. Die Sorge und der Widerstand bewahrt den verantwortungsbewussten Bürger nicht von der Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen; auch er muss essen, was auf den Tisch kommt, und künstlich erzeugte radioaktive Strahlung macht um niemand einen Bogen. Ihm bleibt die Mühe, möglichen Etikettenschwindel zu erkennen, oder ihm ausgeliefert zu sein.

Es jährt sich zum ersten Mal, dass Kindern auf die Finger geschlagen wurde, weil sie den Rasen berührten. Es jährt sich zum ersten Mal, dass Sandkästen weggebaggert werden mussten, und Kinder vor verschlossenen Bädern standen. Es wurde notwendig, unsere Kinder vor den Auswirkungen unseres Willens zu schützen, sie einzusperren, ihnen Dinge zu verbieten, die uns als Kinder selbstverständlich waren. Die Korsetts werden enger, wir bauen uns unser eigenes Gefängnis, unser Vergessen baut die Gitter. Wer denkt schon leicht über Dinge nach, die man nicht schmeckt, die man nicht riecht, und die man nicht sieht. Keiner der Sinne unterstützt den Kampf gegen unsichtbaren Mord.

Man sagt uns, wir seien sicher – und zur gleichen Zeit werden in der Bundesrepublik Mitbürger kontaminiert – sprich: vergiftet. Man erlaubt sich sogar die Unverfrorenheit, zu posaunen, der Vergiftete sei „quietschvergnügt und quicklebendig“, weil ihm wahrscheinlich noch nicht die Haare ausgefallen, und verschweigt, dass man erst der noch lebendigen Leiche ansieht, dass sie nie wieder quicklebendig und quietschvergnügt sein wird. Das Gift hat Zeit und nutzt sie.

Die Sorge wird als Panikmache verlacht, die Verantwortung als Querulanz verteufelt. Man wird später sicher Entschuldigungen für das Verbrechen des Nichtstuns, des Schweigens und der Beschwichtigung finden.

Es ist völlig gleichgültig, ob aufgrund des radioaktiven Fallouts vor einem Jahr zwei oder zweitausend statistische Tote in der Bundesrepublik zu verzeichnen sind, denn bereits ein Toter ist einer zu viel. Beklagen wird die Toten niemand, denn sie wurden bewusst von uns als statistisches Schlachtvieh zum Altar der Menschenopfer zitiert. Sie sind berechnet, und Opfer der Berechnung. Sie sind wirtschaftlich vertretbar laut Strahlenschutzverordnung, also wirtschaftlich vertretbare statistische Morde. Die Klage eines Bürgers über die Ausbringung von mit 14000 Becquerel belastetem Klärschlamm, Monate nach Tschernobyl, auf die Felder bayerischer Bauern, wurde vom Umweltministerium mit der lapidaren Begründung abgeschmettert, die Strahlenschutzverordnung gelte nur für den „willentlichen Umgang“ mit radioaktiver Strahlung, und sei somit nicht zuständig.

Es bleibt nur ein Nachruf. Menschen werden vermutlich immer erst verstehen, wenn sie vor den Mahnmälern ihrer Vergangenheit stehen. Für untätiges Hoffen gibt es keine Entschuldigung, weder heute noch morgen. Es bleibt weiterhin jeder Tag ein möglicher Jahrestag irgendeines „Tschernobyl“.

  1. April 1987

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