Die Bäckersfrau

troll-imadeWEB-1Die Männer, unter die sich auch ein paar Frauen gesellten, philosophierten auf der Bank wie jeden Morgen, während die Leute – vom Ostbahnhof kommend – zu ihren Bussen eilten, um noch rechtzeitig den Arbeitsplatz oder die Schulbank zu erreichen. Der Arbeitsplatz jener Männer und Frauen auf der Bank vor dem Ostbahnhof war diese Bank. Sie benötigten daher keine Busse. Was gut war, denn so sparten sie sich die Kosten, die zu entrichten sind, wenn einer ein Verkehrsmittel benutzt, das in diesem Land als ein öffentliches bezeichnet wird.

In diesem Land ist es nicht so, dass ein Passagier mitreisen kann, nur weil er dem Busfahrer verspricht, am Ziel würde eine Frau auf ihn warten, welche den Fahrpreis entrichten werde; wissend, dass da keine Frau sein wird. Auf diese Art und Weise reiste in einem anderen Land einst der keineswegs blinde Passagier in alle Landesecken des Landes, besichtigte Heimaey auf den Vestmannayjar, und war ganz verblüfft, dass ihm der Zutritt verweigert wurde, als er sich anschickte, endlich auch einmal mit einem Flugzeug seine Ziele sich zu erfahren. Die Aussicht, dass am Ziel eine Frau auf ihn warte, welche den Fahrpreis entrichten werde, reichte nicht aus.

Tryggvi staunte, als ich ihm auf die Frage, was ich davon hielte, zur Antwort gab, dass es keinen Unterschied mache, ob da ein Bus mit zehn statt mit elf leeren Sitzplätzen durch das Land gefahren werde. Was mich wiederum erstaunte, denn so kannte ich Tryggvi noch nicht. Erst als er mich darüber aufklärte, dass es sich dabei um einen neunjährigen Jungen gehandelt habe, verstand ich ihn besser. Dass der von den Busfahrern akzeptierte Schwarzfahrer erst neun Jahre alt war, konnte sich mir nicht erschließen, denn Neunjährige sagen gewöhnlich Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, aber niemals Kona, also „Frau“. Isländische Neunjährige sagen demnach nicht Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, sie sagen „Frau“. Und gelegentlich sind sie in diesem Alter bereits Landshornaflakkari, also Landeseckenlandstreicher.

Das Land, wo die alkoholkranken Männer und Frauen vor dem Ostbahnhof auf einer Bank zum Lebensunterhalt der Bedürftigen beitragen, ist ein anderes Land. In diesem Land sagen Neunjährige Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, wenn sie die Monatskarte in ihrer Panik vergessen hatten, oder einfach nur die Wahrheit. Was ihnen aber auch nicht hülfe, darüber dennoch das Klassenzimmer zu erreichen, um die gefürchtete Schulaufgabe zu schreiben, die für die letzte Chance auf eine noch mögliche Versetzung in die nächste Klasse sorgen solle. Nein, es wird nicht helfen. Dass der Junge wegen der entscheidenden Schulaufgabe derart durch den Wind war und deswegen in der Eile auf seine Monatskarte vergessen hatte, und auch ein gerader Kerl war, der den Busfahrer fragte, ob er heute ohne Monatskarte mitreisen darf, statt das Risiko einzugehen, als Schwarzfahrer gebrandmarkt zu werden: es wird ihm nicht helfen. Es wird ihm auch nicht helfen, dass der Busfahrer keine 50 Zentimeter von der Bushaltestelle entfernt darauf wartet, dass die Ampel von Rot auf Gelb, und dann auf Grün wechsle; die Tür bleibt für ihn geschlossen. Sein flehentliches Klopfen an der Glasscheibe wird gehört, sein Flehen bleibt unerhört. Auch Busfahrer haben Anspruch darauf, Obrigkeit sein zu dürfen. Wie jeder in diesem Land.

Da ist es gut, dass es nicht weit vom Ostbahnhof entfernt eine „Feine Backstube“ gibt, die von einer Bäckersfrau betrieben wird. Die Kunden kaufen dort gerne ein, denn die Inhaberin backt selbst, und bietet ihre Backwaren wie „russischen Zupfkuchen“ oder „Apfelstrudel“ auf türkische Art neben den üblichen Industriebackwaren wie Mohnschnecke, etc. an. Für die Arbeiter gibt es Soljanka, hausgemacht, zu Preisen, die Arbeiter auch bezahlen können. An der Glasfront der Backstube bot die Inhaberin weithin sichtbar Sätze feil. So notierte ich zum Beispiel den Satz, bereits im Bus sitzend:

Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.

Am nächsten Morgen fragte ich die Inhaberin, die fließend Deutsch sprach, wer denn der Autor dieses Satzes sei. Sie sah mich staunend an und teilte mir mit, dass es sich dabei um einen Satz von Goethe handle. Sie schreibe immer einen Satz über das Wochenende an diese Glasfront, und würde ihn am Montag beim Fensterputzen wieder entfernen. Gestern sei sie allerdings nicht rechtzeitig zum Fensterputzen gekommen.

Its-your-road_05.12.13
Autor fehlt

Daraufhin schrieb sie immer den Verfasser unter den Satz, denn sie erkannte, dass in diesem Land Wert auf das wer gelegt wird, und nicht auf das was. Und so reihte sich Satz an Satz:

 Sei Du selbst die Veränderung Die Du Dir wünschst für die Welt

Woche für Woche, immer wieder ein anderer Satz. Und stets stand der Verfasser der Sätze unter dem Satz. Bis eines Tages ein Satz ohne Verfasser die Glasscheibe zierte:

Ohne die Liebe
ist jedes Opfer Last
jede Musik nur Geräusch
und jeder Tanz macht müde.

Vier Tage wartete sie auf meine Nachfrage, dann hielt sie es nicht mehr aus. Während sie den russischen Zupfkuchen in die Tüte packte, fragte sie, so ganz nebenbei, ob mich bei diesem Satz der Name dieses Verfassers nicht interessiere. Dass der Name unter dem Satz diesmal fehlte, war demnach Absicht. Sie konnte nicht wissen, dass sie den falschen Satz für ihren Plan gewählt hatte, und so wurde ihr Plan mit einem Satz durchkreuzt: „Doch, aber ich kenne längst seinen Namen.“

Seitdem steht kein Name mehr unter dem Satz. Sagt doch der Philosoph Daniel-Pascal Zorn völlig richtig:

Wer an Philosophen glaubt, hat nichts von ihnen gelernt.

Wittgenstein
Ohne Autor

Und da jede Gabe eine entsprechende Gegengabe erlaubt, gab ich der Bäckersfrau einen Satz zurück, den sie sich notierte, und der dann die gesamte Woche die Glasfront belegte. Ohne Nennung des Namens. Denn was wäre schon von einem was zu halten, welches erst durch das wer zu einem was wird. Ein was, das sein Überleben nicht aus sich selbst erhält, sondern erst durch ein wer, … wozu sollte es überleben.

Die Feine Backstube befindet sich ausgerechnet gegenüber einer Schule. Die Kinder kaufen dort gerne ein, oder lesen die Sätze an der Glasscheibe, wenn sie auf der gegenüber liegenden Bushaltestelle auf den Bus warten, der sie zu den Hausaufgaben fährt. Es gibt kein Fach Philosophie in den Schulen dieses Landes. So kommt die Philosophie zur Schule, möchte aber nicht in diese hinein. Es genügt ihr, draußen vor der Tür zu sein, auf der Straße sozusagen.

Am Ostbahnhof in München suchen gerne Bedürftige die Nähe der mildtätigen Männer und Frauen, deren Arbeitsplatz die Bank ist. Stets ziehen die Bedürftigen kleine Rollwägen hinter sich her, und stochern in dem Abfallkorb neben der Sitzbank, ob dieser nicht eventuell noch Schätze enthalte, die auf eine Bergung warten, in Form leerer Bierflaschen, die man an ausgewählten Automaten gegen ein paar Groschen tauschen kann. Seitdem die Regierung ein Sozialprogramm verfügte, und dieses Programm mit dem Namen eines Personalchefs eines großen Konzerns versah, da dieser den Tatbestand der Untreue und Begünstigung erfülle, seitdem sammeln die Bedürftigen leere Pfandflaschen aus Abfalleimern. Und sie werden immer fündig, weswegen sie auch immer gerne wiederkommen, zu den Alkoholkranken. Die mildtätigen Männer und Frauen auf der Sitzbank bekommen hiervon nichts mit. Sie haben Gewichtigeres zu tun. Sie müssen philosophieren.

Und der Neunjährige mit seinen Frauen? Ich weiß nur, dass er – so er noch lebt – nunmehr schon auf die Vierzig zugehen muss, und er auch heute noch über seine Reisen nachlesen kann. Im Zeitungsarchiv in Reykjavik. Überschrift: Landshornaflakkari.

Wie sagte doch der Fischer Stefán Hörður Grímsson so schön in seinem Gedicht Orsök:

„Es sollte jedem Menschen gestattet sein zu behaupten er kenne sich selber so absurd dies auch erscheinen mag aber zu sagen er kenne einen anderen Menschen ist entweder Unhöflichkeit oder Höflichkeit wie allen gesitteten Menschen bekannt ist die ihr Essen in guter Absicht verzehren.“

Er war ein Fischer, der ein Dichter ist.

ukThe baker

frLa boulangère

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