Bielefeld gibt es gar nicht?

troll-imadeWEB-1Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!“ sei der Satz gewesen, der sich ihm eingeprägt habe, als er sich anschickte, die deutsche Sprache zu erlernen. Böse Zungen behaupten, er hätte sich damit bereits das Wesentliche gemerkt, was deutsche Schulen ausmache wie auszeichne. Dass dem so nicht ist, sei am Beispiel einer Stadt wie Bielefeld nachgewiesen. Es könnte aber auch eine andere deutsche Stadt sein, zum Beispiel Bonn, oder jede andere Stadt, so diese nur ca. 320.000 Einwohner zählte. Nehmen wir also eine von diesen Städten, nehmen wir Bielefeld, als Stellvertreter für all solche deutschen Städte, welche die Eigenschaft besitzt, dass in ihr ca. 320.000 Einwohner einen Wohnsitz haben.

Die Stadt der Dichter und Leser

EymundssonEs gibt in Bielefeld 129 Verlage, die 2010 insgesamt 1.505 verschiedene Bücher publiziertem, davon allein 350 Bücher im Bereich Literatur/Dichtung, aus Übersetzungen von Literatur und Dichtung anderer Länder weitere 286 Bücher, im Bereich Philosophie 16 Bücher von Philosophen der Stadt, sowie weitere 15 Bücher aus Übersetzungen von Werken ausländischer Philosophen.

Diese Werke der Bielefelder Autoren und Übersetzer werden von Druckereien gedruckt, von Buchbindern gebunden, und dann werden die 1.505 Auflagen an die 26 Bielefelder Buchhandlungen ausgeliefert, damit die Bielefelder mit Lesestoff versorgt werden, auf welchen diese schon sehnsüchtig warten, um in langen Winternächten ihrer Leidenschaft nachgehen zu können: In einem Buch zu lesen. Und da ein Buch in Bielefeld nur dann Buch ist, wenn Werk von Dichter sich vereint mit Werk von Buchgestaltern, Werk von Druckern, Werk von Buchbindern, und Kenntnis von Buchhändlern, wird verständlich, dass die Bielefelder unter der Tätigkeit „lesen“ etwas anderes verstehen als ein Scannen von Zeilen und das Konsumieren von Texten;. sie daher Jahr für Jahr auf die neue Bücherflut warten, und sich überraschen lassen, von all dem Neuen, bisher noch nicht Dagewesenen, um sich darin zu versenken.

Da dies in Bielefeld so ist, entstand dort eine Gemeinschaft all jener, die mit der Herstellung von Büchern zu tun haben: Der Bielefelder Schriftstellerverband, der eine Autorengewerkschaft ist, und dessen Aufgabe darin besteht, die Freiheit der Literatur zu schützen. Dieser Verband kümmert sich um Regelwerke mit Herausgebern, Theatern, Medien, Institutionen und anderen Einrichtungen, die die Werke herausgeben oder verwenden wollen.

Und so leben in Bielefeld 70 Autoren allein von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, die Stadt zahlt Provisionen an einen speziell dafür eingerichteten Fond für die Benutzung von Büchern in öffentlichen Bibliotheken, und für die Verwendung von Texten als Lehrmaterial in den Schulen der Stadt.

Der Stellenwert von Dichtkunst und Literatur ist in Bielefeld so hoch, dass die Molkerei der Stadt einen Dichter-Wettbewerb unter den Schülern der Stadt auslobte, und dann die Gedichte der Kinder auf den Tetra Paks publizierte. So konnten die Bielefelder Familien morgens beim Frühstück ihren Tag mit dem Lesen eines Gedichts anreichern, mit Gedichten von Schülern, wie zum Beispiel diesem:

„Damals
war ich so glücklich
ihn zu peinigen
und keiner
wagte mich anzuklagen.

Jetzt
sah ich ihn heute,
er ist berühmt.
Ich beneide ihn;
was bin ich?
Nichts!“

„Willkommen in der Stadt“

Es kann daher auch nicht überraschen, dass sich der Bürgermeister der Stadt schriftlich an die Besucher der Stadt wendet, an die Touristen, indem er darauf hinweist, dass die Wahrscheinlichkeit nicht groß ist, dass diese in der Stadt sind, da der größte Teil der Menschheit anderswo sei, und dies wissenschaftlich erwiesen ist:

Ist es ein Zufall, wo man geboren wird? Ist es Gegenstand eines allgemeinen Gesetzes? Habe ich in irgendeiner Form existiert, bevor ich geboren wurde? Hatte ich etwas damit zu tun, wo ich geboren wurde? Warum haben Eva Braun und Adolf Hitler keine Kinder geboren? Haben sie es nicht versucht? Kann es sein, dass kein Kind sie als Eltern wollte? Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht an Zufälle. Ich glaube nicht, dass Gott Würfel spielt, vor allem nicht, wenn Menschenleben betroffen sind. Diese Gedanken führen einen unweigerlich dazu, Schrödingers Katze zu betrachten. Sie ist wahrscheinlich eine der berühmtesten Katzen der Welt (vielleicht nach Ninja Cat). Noch weiß niemand, wie sie genannt wurde? Wie wurde Schrödingers Katze genannt? Abrakadabra? Ich erinnere mich nicht. Nennen wir sie Phoenix. Das ist eine gebräuchliche Bezeichnung für Katzen. Phoenix war von der Art, dass sie sowohl existierte und auch nicht. Deshalb existierte sie immer, und selbst wenn Schrödinger seine Katze in einer eher geschmacklosen Weise getötet hätte, ist sie immer noch in Schrödinger’s Haus am Leben, während Schrödinger selbst seit längerer Zeit tot ist:

Δx Δp ≥ h/2

Bedeutet dies, dass ich immer existierte, oder dass ich nie existierte und daher auch jetzt nicht existiere? Das kann nicht sein! Es würde bedeuten, dass all unsere Existenz irreal war und nur in unserer eigenen Phantasie existierte. Wenn ich nicht existiere, dann du auch nicht. Ich hatte eine harte Zeit, das zu glauben. Die Fakten sprechen für sich. Wenn ich nicht wirklich bin, dann, wie könnte ich dann nach Finnland fliegen, mir eine Postkarte mit einem Bild von der finnischen Präsidentin Tarja Halonen zusenden, wieder nach Hause fliegen und den Briefträger begrüßen, der mir die Karte bringt? Ich weiß nicht.“

„Der Vater ein Alkoholiker, und die Mutter war immer müde“

Man kann die Nation mit einer Familie vergleichen, mit einem Alkoholiker als Vater, der seit vielen Jahren betrunken ist …Er hatte große Ideen, vor allem, wenn er einige hatte. Er hatte einen Mund und scheute sich nicht, den Leuten zu sagen, wohin sie gehen sollten … ‚Ich höre keinerlei Bullshit zu!‘ war sein Motto, und seine Familie vertraute ihm. Zum Teil, weil die Familie ihn liebte, trotz seiner Trinkerei und seiner Fehler, aber auch zum Teil, weil die Leute einfach Angst hatten, sich gegen ihn zu stellen. Und so begann die Familie sich zu fragen, ob er eine Art von Genie sei und kein psychisch kranker Alkoholiker, sondern brillant, der fähig ist, Dinge zu sehen, für die die durchschnittlichen Verlierer nicht klug genug waren, sie zu sehen … Am Ende konnte er nichts mehr tun als den geistigen, körperlichen und finanziellen Ruin zu gestehen. Und so ging er in Behandlung. Und die Familie blieb verblüfft, verwirrt und wütend zurück“.

So die Rede des Bürgermeisters zur zweiten Diskussion zum Jahresbudget der Stadt, und die Staatsbürger der Nation lobten die Rede, indem sie die Ausführungen als „erschreckend genau“ bezeichneten. Aber der Bürgermeister warnte vor dieser Wut, da sie Energie „verbrenne“ und zu Erschöpfung führe, denn Gram und Hoffnungslosigkeit führe zu Inaktivität. Ärger sei menschlich und manchmal notwendig, aber wenn zugelassen werde, dass er sich anhäuft, werde dies zu einem tödlichen Gift, das den Geist krankmache. So der Bürgermeister, der in seiner Ansprache zur Ankündigung des vorgeschlagenen Stadthaushalts bereits ankündigte:

Wir teilen keine vorgegebene, gemeinsame Ideologie. Wir sind weder rechts noch links. Wir sind beides. Wir wissen nicht einmal, dass es darauf ankommt Wie oft kann der Kuchen geschnitten werden? Wer bekommt ein kleines Stück? Und wer braucht ein wirklich großes Stück? Was ist ein Luxus, und was ist wichtig? … Ist es besser, die Kinder an Stelle der Älteren zu berauben?

Der ehrenhafteste Politiker des Landes

gnarr_coverSpätestens an diesem Punkt wäre hier klarzustellen, dass es sich bei diesem Bericht keineswegs um eine Stadt handelt, sondern um eine ganze Nation, deren Anzahl an Staatsbürger nicht größer ist als eben die Einwohnerzahl einer Stadt wie zum Beispiel Bielefeld. Und die Rede ist von einem Bürgermeister einer Stadt, der den Namen Jón Gnarr angenommen hatte, und dessen Amtszeit als Bürgermeister der Stadt Reykjavik bereits endete, in welcher er 8.000 Angestellten der Stadt vorstand. Die Amtszeit endete nicht, weil er nicht mehr gewählt worden wäre. Keineswegs. Bereits nach einem Jahr Amtszeit bescheinigte ihm die Nation, der ehrenwerteste Politiker des Landes zu sein. Laut Nachricht der Tageszeitung Morgunblaðið vom 11.03.2011 erreichte Jón Gnarr nach einem Jahr Amtszeit im Vergleich mit anderen politischen Persönlichkeiten Islands den Spitzenplatz in Ehrlichkeit (28,8 %), Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft (23,7 %), Ausstattung mit Persönlichkeit (29,5 %), und bildete in Entschlossenheit (5,0 %), Machtstellung (5,6 %), Standhaftigkeit gegenüber seinen Überzeugungen (17,9 %) und Funktionstüchtigkeit bei Druck (3,5 %) das Schlusslicht, galt damit als die ehrenhafteste und ehrenwerteste Person Islands.

Eine Bewertung, die geeignet ist für Irritationen: Sind es nicht eben die Eigenschaften „Entschlossenheit“, „Machtstellung“, „Standhaftigkeit gegenüber seinen Überzeugungen“ und „Funktionstüchtigkeit bei Druck“, welche Politiker auszeichne und diese erst zu solchen mache, und seien diese nun – was diesbezüglich Jacke wie Hose – in einer Diktatur oder Demokratie unterwegs, ob dort nun säkular oder auch nicht? Und ist damit gesagt, dass Politiker nur dann Politiker sind, wenn diese ehrlich sind, mit der Gemeinschaft zusammenarbeiten, und mit Persönlichkeit ausgestattet sind?

Und so endet die Rede Jón Gnarr’s zur Diskussion über das Jahresbudget der Stadt:

Miss Reykjavík hat eine Zukunft vor sich. Sie hat vielleicht einen Alkoholiker als Vater gehabt und ihre Mutter war immer müde. Doch sie lässt es dabei nicht bewenden. Sie verzeiht alles, duldet alles, und streckt sich zum Licht. Reykjavík hat das Potenzial, die sauberste und schönste, friedvollste und lebenslustigste Stadt der Welt zu sein, weltbekannt für Sympathie, Kultur, Natur und Frieden; ein Diamant, für uns zu polieren und zu glänzen„.

Der „Komiker“

Was ist ein „Komiker“? Lassen wir Jón Gnarr selbst zu Wort kommen:

Vor einem Jahr saß ich auf der Insel Puerto Rico. Ich hatte gerade einen Kinofilm fertiggestellt, zu dem ich das Drehbuch schrieb und den ich zusammen mit ein paar meiner Freunde produziert hatte. Ich war arbeitslos und frage mich, was mein nächstes Projekt sein soll.

Ich war zuvor bei einer Werbeagentur beschäftigt, wurde aber im Gefolge der Rezession und Depression entlassen. Ich verfolgte die Situation in Island über die Nachrichten-Websites. Es wurde zur Gewohnheit nach dem Zusammenbruch. Vor dem Zusammenbruch hatte ich wenig Interesse an Politik, und ich ging sogar einige Längen, um zu vermeiden, dem Treiben in dieser Ecke der Gesellschaft folgen zu müssen.
Ich tat dies, bis alles mit einem Krach zusammenbrach und unser Premierminister im Fernsehen auftrat, um Gott zu bitten, uns zu segnen. Ich fühlte mich wie mit einem nassen Lappen geohrfeigt. Was war geschehen? Ich begann im Anschluss daran die Nachrichten aufmerksam zu verfolgen. Wo ich ging, drehte sich der Diskurs überall um dieses Thema; auf Parties, bei Geschäften und bei Treffen mit Freunden auf der Straße.
In einem Augenblick wurde ich ein Nachrichten-Süchtling. Und je mehr ich den Nachrichten folgte, umso wütender wurde ich. Ich war wütend auf die kapitalistischen Bankster. Ich war auf das System wütend, das versagte. Aber ich hob meinen heftigsten Zorn für die Politiker auf. Jeder einzelne von ihnen ist ein unfähiger, eigennütziger Idiot, dachte ich.
Ich war wütend auf mich, und böse auf die Menschen, die diese Politiker gewählt hatten. Ich wollte etwas tun. Ein paar Mal ging ich hinunter zur Austurvöllur, um mich an den Protesten zu beteiligen. Ich konnte mich zur uneingeschränkten Teilnahme nicht entschließen. Ich wollte nicht Müll in das Alþing werfen oder mit der Polizei ringen. Ich wollte meine Wut nicht durch die Eröffnung eines Blogs entlüften.

Ich bekam von all dem Ärger Angst, von der Wut in mir und die mich umgebende Wut. Ich war besorgt, dass sie sich verstärkt und wächst und am Ende etwas Schreckliches passieren würde. Ich fühlte den Schmerz aller. Ich fühlte mit den Menschen, die in ihrem Protest Zeichen schwangen und auf Töpfe schlugen. Aber ich fühlte auch mit den ängstlichen Politikern, die in übereilter Flucht zu ihren Autos liefen oder mit Angst in ihren Augen vor den Kameras standen. Ich fühlte mit den Polizeibeamten, die die wütenden Massen vor dem Gesicht hatten. Mein Vater lag damals auf seinem Sterbebett im Landeskrankenhaus. Er war seit über vierzig Jahren ein Polizist Reykjavík’s. Er wurde in all den Jahren nicht in einen höheren Rang befördert, weil er Kommunist war. Ich fand es traurig, dass er starb und es ihm entgangen ist, dass die Links-Grünen in das Alþing kamen. Das hätte ihn sehr glücklich gemacht.
Ich liebe diese Stadt und ich liebe dieses Land. Ich liebe die Menschen, die es bewohnen
.“

Was die Frage aufwerfe, welcher Sinn darin liege, die Größe einer Nation an der Anzahl Staatsbürger zu bemessen.

Die Frankfurter Rundschau titelte: „Ein Clown macht Ernst“, und Henryk M. Broder berichtete live aus Reykjavik „Reykjavik erwartet den Staats-Streich“.

Der „Clown“ Jón hat das Rathaus von Reykjavik an seinen Nachfolger übergeben, der „Staatsstreich“ ist zu Ende. Jedoch: War er ein Clown? War es ein Staatsstreich?

Übersetzung: B. Pangerl

ukDoes Bielefeld exist?

frBielefeld n’existe pas ?

Resonanzkörper

troll-imadeWEB-1Sie sind zurückgekehrt. Unüberhörbar. Die Topfdeckel.

Der Friseurmeister brachte den Kopf in jeder Beziehung auf Façon: „Politiker sind wie Tauben“. Ein prüfender Blick von hinten in den Spiegel auf die Mimik des Delinquenten verriet ihm, dass der Satz seine Wirkung nicht verfehlt hatte, und so antwortet er in die Stummheit des fragenden Blicks hinein: „Sind sie unten, fressen sie dir aus der Hand, sind sie oben, wirst du von ihnen beschissen.“

Demo_12Der Mann kannte sich offensichtlich mit Tauben aus. Vor dem Alþingi, dem isländischen Parlament trommelte Topfdeckel, Pfannenwender, und was ein Mensch noch so gewöhnlich in seinen Taschen mitnimmt, wenn sein Weg zum Parlament führt. Trommelten und hämmerten gegen alles, was dazu geeignet, Volkes Stimme auch durch geschlossene Fenster eines Parlaments dringen zu lassen. Denn worin läge schon Sinn, sich der Mühe zu unterziehen, auf freier Fläche Stunde um Stunde, von Sturm und Regen ungeschützt herumzustehen, wenn die Botschaft nicht durch verschlossene Fenster hindurch so deutlich zu vernehmen ist, dass keine normale Unterhaltung dahinter mehr möglich, es sei denn, man schreie sich gegenseitig an.

Die Idee, aus Erfahrung zu lernen, und das bis 2008 für Jedermann ungehindert zugängliche wie völlig ungeschützte Parlament nun vor dem Volk in Sicherheit bringen zu müssen, erwies sich als eine höchst dümmliche. Damals stürmte das Volk das Parlament, eine Art „Prager Fenstersturz“ ohne Fenstersturz, und Halldór Guðmundsson berichtete in seinem Buch „Wir sind alle Isländer“ davon, dass einer gesagt haben solle, die Parlamentarier hätten nur dem Umstand ihr Leben zu verdanken, da vorher der einzige verfügbare Baum abgefackelt worden sei, und so kein Baum mehr zur Verfügung stand, um die Parlamentarier daran aufzuknüpfen.

Nun, wer Isländer näher kennt, weiß, dass dies nicht einmal dann geschehen wäre, wenn das Parlament ein ganzer Wald umgeben hätte. Nicht ein Einziger der aufgebrachten Menschen hätte dies auch nur gedanklich in Erwägung gezogen. Isländer schätzen dann Humor, wenn er die Eigenschaft „smart isländisch“ erfüllt. So ist auch jene Handlung als „smart isländisch“ einzustufen, den einzigen Baum vor dem Parlament abzufackeln, die riesige Tanne, den Weihnachtsbaum, der wie jedes Jahr den Isländern von Norwegen gespendet wird, und die Hauptstadt immer rechtzeitig vor Advent auf einem Schiff erreicht. Diese majestätische Tanne ging in jenem Jahr in Flammen auf. Isländer schätzen keine Tünche über Wirklichkeiten. Ade, Friede, Freude, Eierkuchen. Es ging schließlich um nicht weniger als um das nackte Überleben.

Den Damen und Herren Parlamentarier steckte offensichtlich noch die Erinnerung daran in den Knochen, und so umgab nun eine „Bannmeile“ das Parlament des Inselstaates, nach Festlandssitte. Eine Art „Eiserner Vorhang“ zwischen Volk und Volksvertreter nach mehr als 1000 Jahren, die seit der ersten Besiedelung Islands über die Insel hinweg gezogen sind.

Nicht dass sich seitdem etwas verändert hätte, und das Volk gewalttätiger geworden wäre über die Jahrhunderte. Keineswegs. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Aber eine Bannmeile ist einfacher als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie es denn dazu kommen konnte, dass Volksvertreter vor dem zu schützen sind, was sie nur vertreten, ohne es zu sein, und sich in Folge furchtsam oder wenigstens ignorant nur noch darin von Ludwig XVI unterscheiden, dass deren Vertretung nur eine vorübergehende, und nicht vererbbar.

Demo_3Die „Bannmeile“ erwies sich deshalb als dümmliche Idee, weil zur Abgrenzung ausgerechnet Metallwände aufgestellt wurden. Eine willkommene Einladung an alle, die draußen vor der Tür zu bleiben hatten. Und so trommelten wenigstens hundert Stiefel stundenlang gegen die Spundwände, nicht wild durcheinander, sondern im Takt, was einen Impulslärm verursachte, der bis hinauf zur Hallgrims-Kirche zu hören war. Zwischen den Häuserzeilen pulste der Rhythmus als würden unsichtbare Trommeln die Krieger der Prärie zusammenrufen; das Parlament als Wagenburg umzingelt, und kein John Wayne in Sicht, der heroisch die Schar der Guten aus der Hand der grausamen Wilden rettet.

Einige der stoischen Botschafter erwiesen sich bei der Überbringung der Botschaft als „smart isländisch“: Sie kehrten dem Parlament den Rücken, wandten sich dem Volk zu, dabei nicht vergessend, nach hinten kräftig auszuschlagen; wie ein Islandpferd, dem ein unerfahrener Pferdeknecht derart zu nahe gekommen ist, dass es schmerzte.

Was die Frage erlaubt, worum es denn da eigentlich ging, bei dieser Auseinandersetzung.

Es ging um die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Wer aber nun glaubt, es handle sich bei der wütenden Bevölkerung um Befürworter einer Mitgliedschaft Islands in der EU oder um Gegner einer solchen, sieht sich abermals getäuscht. Es ging einzig und allein um die Einlösung eines Wahlversprechens.

Die in das Amt gewählte Regierung hatte bei der Wahl versprochen, die Frage, ob die Verhandlungen mit der EU fortgesetzt werden sollen oder nicht, dem Volk vorzulegen und dieses entscheiden zu lassen. Kaum im Amt, stellte die Regierung die Verhandlungen mit der EU ein, da ohnehin die Mehrheit der Isländer gegen einen Beitritt zur EU stimmen würde, wie die Statistik vorrechnete. So logisch die Entscheidung der Regierung auch war, so groß auch der Unterschied zwischen der Regierung und der Sichtweise der Isländer: Es geht gar nicht darum, ob die Mehrheit einen Beitritt zur EU ablehne oder nicht, es geht darum, ob ein Politiker ein Wahlversprechen abgeben kann, und hinzunehmen ist, dass er dieses Versprechen nicht einlöse, so unsinnig dies auch sein mag. Und hier zeigt sich die Größe eines Volkes: ein Wort ist wie ein unterzeichneter Vertrag. Ob nun die Erfüllung des Vertrages dümmlich ist oder nicht, ist das Problem dessen, der da den Mund zu voll genommen hatte. Hätte er geschwiegen, er wäre ein Weiser geblieben, und unbehelligt. Mag sein, dass Pragmatismus anders aussieht, aber das ist eine Frage, was denn nun pragmatisch sei oder nicht. Dass ein Wahlversprechen gegeben, aber nicht eingehalten, gehört bei Isländern nicht zum Pragmatismus. Pragmatisch kann nur sein, wo entweder Versprechen eingehalten werden, oder gar nicht abgegeben. Und damit diese Botschaft auch deutlich rüberkommt, dafür gibt es Topfdeckel und eiserne Pfannenwender in der Küche.

Nun, die Parlamentarier waren ganz Ohr, und haben die Lektion schnell gelernt. Am nächsten Tag waren die Metallwände wieder verschwunden, und durch ein Lärm verhinderndes gelbes Plastikband ersetzt.

Was auch nichts nützte. Denn es gab ausreichend Metall und damit geeignete Resonanzkörper genug vor dem Parlament: Laternenpfähle, Verkehrsschilder, Parksperren, etc. Und so verrichteten die Pfannenwender und Topfdeckel weiterhin ihr zermürbendes Tagwerk, denn die Natur draußen lehrt jeden Isländer von Kindesbeinen an: steter Tropfen höhlt selbst den härtesten Basalt.

Und da es den Anschein hat, als würden sich die Parlamentarier nicht heraus trauen aus dem Gebäude, da draußen Volk vor der Tür steht, sind die draußen vor der Tür Harrenden ihrer Fürsorgepflicht nachgekommen, und haben Verpflegung mitgebracht für ihre Volksvertreter. Nicht dass ihnen noch vorgeworfen werden könne, sie wären schuld daran, dass bei den Parlamentariern Hungerödeme festgestellt werden. Nur böse Zungen behaupten, die Bananen wären ein Hinweis darauf, dass sich die Parlamentarier mit ihrem Verhalten, Wahlversprechen abzugeben, und diese dann nicht einzuhalten, die Republik auf das Niveau einer Bananenrepublik gebracht hätten.

Nun ist der Vorgang, Tag für Tag stundenlang vor einem Parlament nur aus dem Grund auszuharren, weil ein Wahlversprechen nicht eingehalten wurde, nicht unbedingt auf andere Länder übertragbar. Würde dies dort doch zum Zusammenbruch der Nation führen. Da dann notwendig wäre, 365 Tage zu trommeln. Pro Jahr. Vor deren Parlamenten, auf Gemeinde-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene. Und so gehört in diesen Ländern der Bruch von Wahlversprechen zur wohlgelittenen Sitte. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.  Der Mensch nimmt übel, und fällt beim nächsten Mal wieder darauf herein. Ein Schelm, der dabei denkt, der Apfel falle nicht weit vom Stamm.

In einer Demokratie bestimmt das Gescherr den Herrn, und der Fisch ist es, der über den Kopf entscheidet. Daraus ergibt wenig Sinn, sich über Herr und Kopf zu mokieren. Es wäre demnach mehr über den Fisch und das Gescherr nachzudenken, als über den Kopf und den Herrn. Krümmt sich doch mancherorts rechtzeitig, was ein guter Staatsbürger werden will.

EU-gurk-Flagge-B2So entstehen Gebilde, in denen das Grundrecht der Gurke auf vorgeschriebene Krümmung Vorrang hat vor individuellem Menschenrecht, leckere Gurken verkaufen zu dürfen. Und bald auch der Anspruch, dass in Europa nicht schlecht sein kann, was anderenorts für gut befunden. Und sollte dagegen zuwidergehandelt werden, so wird der Staat in die Pflicht genommen: Die explosiven Schriftsätze der Anwaltskanzleien sind schon aufgesetzt, und harren in Schubladen darauf, zwischen den Parlamentariern hochzugehen. In Form von Forderungen, mit 9 Stellen vor dem Komma. Volk hin, Volk her. Dann sind es nicht Topfdeckel, die den Parlamentariern durch Mark und Bein gehen. Das Zauberwort heißt dann: „Hier ist Boston Legal! Mein Mandant hat einen Stein in seinem Schuh. Schadensersatzklage gefällig?“

Demo_9War da nicht ein Topfdeckel, gleich unter der Küchenspüle? Kann es sein, dass zu spät bemerkt wird, dass das Menschenrecht „Alle Menschen sind gleich“ auch für Zwecke eingesetzt wird, für die es gar nicht geschaffen wurde? Zum Beispiel für solche, die mit dem Wort „freier Markt“ kaschieren, dass es tatsächlich um Kontostände auf Bankkonten geht, und keineswegs um „Rechte“? Außer jenem, deren Kontosalden zu erhöhen bis zum Abwinken? Waren da nicht die Reisbauern in Indien, die Dorf runter, Dorf rauf, in den Bankrott getrieben wurden, sich verschulden mussten wegen etwas, was bis dahin kein nennenswerter Kostenfaktor: wegen Saatgut? Und – ist es nicht so, dass in einer Demokratie es der Fisch ist, der über den Kopf bestimmt, und nicht der Kopf über den Fisch? Bannmeile hin, Bannmeile her?

Zu den Fischen! … da ist ja der Topfdeckel … dann mal Butter bei die Fische.

ukResonant bodies

frCorps de résonance

Das Exponat ist unwiederbringlich verzehrt

bv1 Weil es zu wenig Wald zum Müllverstecken gibt, verrotten in Island ausgediente Landmaschinen, Autos und sonstiges Gerümpel meist irgendwo hinterm Haus.

Manchmal sind museumswürdige Stücke darunter, ein alter Rafha-Herd zum Beispiel mit seinen schönen, einst rot glühenden Heizspiralen. Sicherlich gibt es Leute, die solche Dinge bewahren wie die Mitarbeiter des Technikmuseums von Seyðisfjörður. Viele Isländer aber haben zu alten Dingen keinen rechten Bezug und stehen der Frage der Wiederverwertung von „wertlos“ Gewordenem skeptisch gegenüber.

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Ásgeir Jón Emilsson (Geiri): Stühle aus Aludosen

Dennoch setzt sich Recycling in Island immer mehr durch und etliche Gemeinden betreiben das Sortieren und Wiederaufbereiten des Haushaltsmülls mit großem Ernst. Dabei hatte Ásgeir Jón Emilsson (1931-1999), genannt Geiri, Fischer und Künstler in Seyðisfjörður, schon Jahrzehnte zuvor sein eigenes Recycling-System. Er bastelte aus leeren Zigarettenschachteln Bilderrahmen, und Aludosen verwandelten sich unter seinen Werkzeugen in filigrane Stühle.

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Geiris Haus in Seyðisfjörður

Ob Geiri der behördlichen Anordnung zur Mülltrennung gefolgt wäre, ist fraglich. Denn Beamte und Polizisten, die für ihn zu einem anderen Sonnensystem gehörten, respektierte der eigenwillige Künstler nicht. Geiri hatte es nicht leicht in seinem Leben. Das jüngste von zwölf Geschwistern war von Geburt an auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub. Charismatisch und ernst sei er gewesen und immer habe er auf der Seite der Benachteiligten gestanden, heißt es im Katalog, den das Kunstzentrum Skaftfell anlässlich der Ausstellung seiner Werke herausgegeben hatte. Das Geirahús, das bunt bemalte Haus des autodidaktischen Künstlers, kann jederzeit bei einem Gang durch Seyðisfjörður entdeckt werden.

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Smámunasafn Sverris Hermannssonar

Im Gegensatz zu Geiri konnte Sverrir Hermannsson (1928-2008) aus Akureyri keinen Gebrauchsgegenstand zerstören. Der gelernte Zimmermann hing an jedem Nagel und jedem Hammer, der durch seine Hände ging. Mag er rostig und krumm gewesen sein – den Nagel, den Sverrir beispielsweise bei der Renovierung des Nonni-Hauses aus dem Holz gezogen hat, den konnte er nicht wegwerfen. Und Sverrir hatte an der Restaurierung vieler historischer Gebäude mitgewirkt.

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Smámunasafn Sverris Hermannssonar

Als sein Haus in Akureyri von all den gesammelten Gegenständen überzuquellen drohte, hat Sverrir seiner Leidenschaft die Form einer öffentlichen Sammlung gegeben. Im Smámunasafn Sverris Hermannssonar, dem „Museum der kleinen Dinge“ im südlichen Eyjafjord, war seine Sammelleidenschaft mit großem Gespür für Ästhetik dokumentiert. Mögen sich all die Schlüssel, Türklinken oder Bohrer ähneln – ihre Anordnung unterliegt einem eigenwilligen Ordnungsprinzip, sorgsam durchdacht und liebevoll kommentiert.

Die Leute denken, ich muss verrückt sein … Ich habe keinen Bleistift mehr weggeworfen, seit ich 1946 mit der Lehre begann … Ich gelte als exzentrisch – wie komisch.“ Die heitere Gelassenheit, mit der Sverrir seine Marotte präsentiert hat, geht allmählich auf uns Betrachter über, die wir anfangs nur das Skurrile, den Sammelzwang oder die erdrückende Fülle wahrgenommen haben. Freudig bestaunen wir einen alten Federhalter, den Mäuse in ihr Nest verschleppt, ein wenig benagt, letztendlich aber doch intakt gelassen haben.

Was tun mit der leeren Aluminiumdose, was mit dem Rafha-Herd, den die Technik angeblich überholt hat, und was mit den Fischereiutensilien aus dem vorigen Jahrhundert? Museen und Kunstzentren allein können das isländische Recyclingproblem auf die Dauer nicht lösen. Auch die Besucher müssen ihren Beitrag leisten.

In Grenivík, hoch oben im Eyjafjord, liegt ein kleines Fischereimuseum, eine Holzhütte, in der die Langleinen mit Ködern bestückt wurden und der gefangene Fisch eingesalzen wurde. Werkzeuge, Leinen, Arbeitskleidung und Fässer sind ausgestellt, Trockenfische baumeln an grünen Bändern von der Decke. Aus Anlass eines Feiertages wird am Eingang Trockenfisch mit Butter gereicht. Es sind die faserigen Streifen, die es überall abgepackt zu kaufen gibt.

Da ertönen vor der Hütte dumpfe Schläge. Ein paar Isländer üben sich im Zertrümmern eines großen Fisches. Das Zerkleinern und Zermürben der spröden Trockenmasse kostet einiges an Muskelkraft. Der Hammer löst sich gar vom Stiel und verfehlt knapp einen der Zuschauer. Schließlich aber gibt der Fisch nach, zerfällt, zerfasert und wird verteilt.

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Exponatreste vor dem Útgerdarminjasafnid

Während ich noch kaue, entdecke ich neben dem Stein, der als Amboss diente, ein grünes Band. Mir kommt ein Verdacht, der in der Hütte seine Bestätigung findet: Nicht nur der Hammer, auch der Fisch war ein Museumsstück. Ich schlucke – das Exponat ist unwiederbringlich verzehrt. Ich blicke in die Runde der Mitesser und denke so für mich: Nehmen die Isländer das Recycling nicht vielleicht doch ein wenig zu ernst?

ukThe exhibited object has been irreversibly consumed

frL’objet exposé est consommé sans retour

Die Bäckersfrau

troll-imadeWEB-1Die Männer, unter die sich auch ein paar Frauen gesellten, philosophierten auf der Bank wie jeden Morgen, während die Leute – vom Ostbahnhof kommend – zu ihren Bussen eilten, um noch rechtzeitig den Arbeitsplatz oder die Schulbank zu erreichen. Der Arbeitsplatz jener Männer und Frauen auf der Bank vor dem Ostbahnhof war diese Bank. Sie benötigten daher keine Busse. Was gut war, denn so sparten sie sich die Kosten, die zu entrichten sind, wenn einer ein Verkehrsmittel benutzt, das in diesem Land als ein öffentliches bezeichnet wird.

In diesem Land ist es nicht so, dass ein Passagier mitreisen kann, nur weil er dem Busfahrer verspricht, am Ziel würde eine Frau auf ihn warten, welche den Fahrpreis entrichten werde; wissend, dass da keine Frau sein wird. Auf diese Art und Weise reiste in einem anderen Land einst der keineswegs blinde Passagier in alle Landesecken des Landes, besichtigte Heimaey auf den Vestmannayjar, und war ganz verblüfft, dass ihm der Zutritt verweigert wurde, als er sich anschickte, endlich auch einmal mit einem Flugzeug seine Ziele sich zu erfahren. Die Aussicht, dass am Ziel eine Frau auf ihn warte, welche den Fahrpreis entrichten werde, reichte nicht aus.

Tryggvi staunte, als ich ihm auf die Frage, was ich davon hielte, zur Antwort gab, dass es keinen Unterschied mache, ob da ein Bus mit zehn statt mit elf leeren Sitzplätzen durch das Land gefahren werde. Was mich wiederum erstaunte, denn so kannte ich Tryggvi noch nicht. Erst als er mich darüber aufklärte, dass es sich dabei um einen neunjährigen Jungen gehandelt habe, verstand ich ihn besser. Dass der von den Busfahrern akzeptierte Schwarzfahrer erst neun Jahre alt war, konnte sich mir nicht erschließen, denn Neunjährige sagen gewöhnlich Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, aber niemals Kona, also „Frau“. Isländische Neunjährige sagen demnach nicht Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, sie sagen „Frau“. Und gelegentlich sind sie in diesem Alter bereits Landshornaflakkari, also Landeseckenlandstreicher.

Das Land, wo die alkoholkranken Männer und Frauen vor dem Ostbahnhof auf einer Bank zum Lebensunterhalt der Bedürftigen beitragen, ist ein anderes Land. In diesem Land sagen Neunjährige Mama, Tante, Oma, Schwester oder dergleichen, wenn sie die Monatskarte in ihrer Panik vergessen hatten, oder einfach nur die Wahrheit. Was ihnen aber auch nicht hülfe, darüber dennoch das Klassenzimmer zu erreichen, um die gefürchtete Schulaufgabe zu schreiben, die für die letzte Chance auf eine noch mögliche Versetzung in die nächste Klasse sorgen solle. Nein, es wird nicht helfen. Dass der Junge wegen der entscheidenden Schulaufgabe derart durch den Wind war und deswegen in der Eile auf seine Monatskarte vergessen hatte, und auch ein gerader Kerl war, der den Busfahrer fragte, ob er heute ohne Monatskarte mitreisen darf, statt das Risiko einzugehen, als Schwarzfahrer gebrandmarkt zu werden: es wird ihm nicht helfen. Es wird ihm auch nicht helfen, dass der Busfahrer keine 50 Zentimeter von der Bushaltestelle entfernt darauf wartet, dass die Ampel von Rot auf Gelb, und dann auf Grün wechsle; die Tür bleibt für ihn geschlossen. Sein flehentliches Klopfen an der Glasscheibe wird gehört, sein Flehen bleibt unerhört. Auch Busfahrer haben Anspruch darauf, Obrigkeit sein zu dürfen. Wie jeder in diesem Land.

Da ist es gut, dass es nicht weit vom Ostbahnhof entfernt eine „Feine Backstube“ gibt, die von einer Bäckersfrau betrieben wird. Die Kunden kaufen dort gerne ein, denn die Inhaberin backt selbst, und bietet ihre Backwaren wie „russischen Zupfkuchen“ oder „Apfelstrudel“ auf türkische Art neben den üblichen Industriebackwaren wie Mohnschnecke, etc. an. Für die Arbeiter gibt es Soljanka, hausgemacht, zu Preisen, die Arbeiter auch bezahlen können. An der Glasfront der Backstube bot die Inhaberin weithin sichtbar Sätze feil. So notierte ich zum Beispiel den Satz, bereits im Bus sitzend:

Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.

Am nächsten Morgen fragte ich die Inhaberin, die fließend Deutsch sprach, wer denn der Autor dieses Satzes sei. Sie sah mich staunend an und teilte mir mit, dass es sich dabei um einen Satz von Goethe handle. Sie schreibe immer einen Satz über das Wochenende an diese Glasfront, und würde ihn am Montag beim Fensterputzen wieder entfernen. Gestern sei sie allerdings nicht rechtzeitig zum Fensterputzen gekommen.

Its-your-road_05.12.13
Autor fehlt

Daraufhin schrieb sie immer den Verfasser unter den Satz, denn sie erkannte, dass in diesem Land Wert auf das wer gelegt wird, und nicht auf das was. Und so reihte sich Satz an Satz:

 Sei Du selbst die Veränderung Die Du Dir wünschst für die Welt

Woche für Woche, immer wieder ein anderer Satz. Und stets stand der Verfasser der Sätze unter dem Satz. Bis eines Tages ein Satz ohne Verfasser die Glasscheibe zierte:

Ohne die Liebe
ist jedes Opfer Last
jede Musik nur Geräusch
und jeder Tanz macht müde.

Vier Tage wartete sie auf meine Nachfrage, dann hielt sie es nicht mehr aus. Während sie den russischen Zupfkuchen in die Tüte packte, fragte sie, so ganz nebenbei, ob mich bei diesem Satz der Name dieses Verfassers nicht interessiere. Dass der Name unter dem Satz diesmal fehlte, war demnach Absicht. Sie konnte nicht wissen, dass sie den falschen Satz für ihren Plan gewählt hatte, und so wurde ihr Plan mit einem Satz durchkreuzt: „Doch, aber ich kenne längst seinen Namen.“

Seitdem steht kein Name mehr unter dem Satz. Sagt doch der Philosoph Daniel-Pascal Zorn völlig richtig:

Wer an Philosophen glaubt, hat nichts von ihnen gelernt.

Wittgenstein
Ohne Autor

Und da jede Gabe eine entsprechende Gegengabe erlaubt, gab ich der Bäckersfrau einen Satz zurück, den sie sich notierte, und der dann die gesamte Woche die Glasfront belegte. Ohne Nennung des Namens. Denn was wäre schon von einem was zu halten, welches erst durch das wer zu einem was wird. Ein was, das sein Überleben nicht aus sich selbst erhält, sondern erst durch ein wer, … wozu sollte es überleben.

Die Feine Backstube befindet sich ausgerechnet gegenüber einer Schule. Die Kinder kaufen dort gerne ein, oder lesen die Sätze an der Glasscheibe, wenn sie auf der gegenüber liegenden Bushaltestelle auf den Bus warten, der sie zu den Hausaufgaben fährt. Es gibt kein Fach Philosophie in den Schulen dieses Landes. So kommt die Philosophie zur Schule, möchte aber nicht in diese hinein. Es genügt ihr, draußen vor der Tür zu sein, auf der Straße sozusagen.

Am Ostbahnhof in München suchen gerne Bedürftige die Nähe der mildtätigen Männer und Frauen, deren Arbeitsplatz die Bank ist. Stets ziehen die Bedürftigen kleine Rollwägen hinter sich her, und stochern in dem Abfallkorb neben der Sitzbank, ob dieser nicht eventuell noch Schätze enthalte, die auf eine Bergung warten, in Form leerer Bierflaschen, die man an ausgewählten Automaten gegen ein paar Groschen tauschen kann. Seitdem die Regierung ein Sozialprogramm verfügte, und dieses Programm mit dem Namen eines Personalchefs eines großen Konzerns versah, da dieser den Tatbestand der Untreue und Begünstigung erfülle, seitdem sammeln die Bedürftigen leere Pfandflaschen aus Abfalleimern. Und sie werden immer fündig, weswegen sie auch immer gerne wiederkommen, zu den Alkoholkranken. Die mildtätigen Männer und Frauen auf der Sitzbank bekommen hiervon nichts mit. Sie haben Gewichtigeres zu tun. Sie müssen philosophieren.

Und der Neunjährige mit seinen Frauen? Ich weiß nur, dass er – so er noch lebt – nunmehr schon auf die Vierzig zugehen muss, und er auch heute noch über seine Reisen nachlesen kann. Im Zeitungsarchiv in Reykjavik. Überschrift: Landshornaflakkari.

Wie sagte doch der Fischer Stefán Hörður Grímsson so schön in seinem Gedicht Orsök:

„Es sollte jedem Menschen gestattet sein zu behaupten er kenne sich selber so absurd dies auch erscheinen mag aber zu sagen er kenne einen anderen Menschen ist entweder Unhöflichkeit oder Höflichkeit wie allen gesitteten Menschen bekannt ist die ihr Essen in guter Absicht verzehren.“

Er war ein Fischer, der ein Dichter ist.

ukThe baker

frLa boulangère

Bildung, Intelligenz und Zivilisation

troll-imadeWEB-1Tilvera: „Es ist deutlich, dass erst mit der Alphabetisierung die Zivilisation begann. Der Mensch hat Anspruch auf Bildung.“

Ónytjungur: „Welche Alphabetisierung meinst du? Die Lesefähigkeit oder die Verschriftlichung?“

Tilvera: „Setzt Verschriftlichung nicht Lesefähigkeit voraus?“

Ónytjungur: „Wenn ich mich recht entsinne, dann wurde die Alphabetisierung einst von christlichen Missionen vorangetrieben, um den Völkern die Bibel in ihrer eigenen Sprache bringen zu können. Auf diese Weise entstand zum Beispiel die Kyrillische Schrift. Um welches Buch geht es diesmal?“

Tilvera: „Es geht darum, dass der Mensch Anspruch auf Bildung hat.“

Ónytjungur: „Genügte für Bildung nicht bereits das Bild?“

Tilvera: „Um sich ein Bild machen zu können, bedarf es der Intelligenz.“

Ónytjungur: „Was meinst du mit Intelligenz?“

Tilvera: „Es gibt unterschiedliche Ausprägungen von Intelligenz.“

Ónytjungur: „Wer behauptet das?“

Tilvera: „Der Intelligenzquotient.“

Ónytjungur: „Du meinst den Rorschach-Test der Intelligenzforscher?“

Tilvera: „Das ist Wissenschaft. Erst mit der Alphabetisierung ist ein höherer Intelligenzquotient erreichbar.“

Ónytjungur: „Wenn nun Intelligenz messbar geworden ist, und Bildung erst durch Alphabetisierung möglich ist, dann hätte ich da ein paar Fragen, die mich schon längere Zeit beschäftigen, ohne dass ich darauf eine Antwort gefunden hätte.“

Tilvera: „Nur zu, ich höre.“

Ónytjungur: „Wäre ein Analphabet in der Lage, eine komplexe elektronische Maschine herzustellen?“

Tilvera: „Nein.“

Ónytjungur: „Wie sähe die Konstruktion eines Flugzeuges aus, das ein Analphabet konstruiert?“

Tilvera: „Vermutlich wie ein Federkleid, aber wir wissen, dass damit kein Mensch fliegen könnte.“

Ónytjungur: „Dann dürfte er vermutlich auch zu dumm sein, um zu verstehen, was er zu tun habe, um zwei Atomkerne miteinander zu verschmelzen.“

Tilvera: „Wo denkst du hin! Das könnte noch nicht einmal ich, und ich bin sehr belesen. Dazu sind nur solche in der Lage, die einen höheren Intelligenzquotienten haben als ich selbst.“

Ónytjungur: „Und wozu hast du dann lesen gelernt? Damit du lesen kannst, dass andere zwei Atomkerne miteinander verschmelzen können?“

Tilvera: „Zum Beispiel.“

Ónytjungur: „Und davon, dass es Flugkörper gibt, die nur eine halbe Stunde benötigen, um von einer Seite des Erdballs die gegenüberliegende Seite zu erreichen?“

Tilvera: „Das ist eine wichtige Information.“

Ónytjungur: „Wofür?“

Tilvera: „Damit ich weiß, wie viel Zeit mir verbleibt, um noch rechtzeitig Schutz zu suchen.“

Ónytjungur: „Wovor?“

Tilvera: „Vor einer explodierenden Atombombe.“

Ónytjungur: „Du willst mir erzählen, dass mit der Alphabetisierung die Zivilisation begann, und dass ein Mensch Anspruch auf Bildung habe, damit er zum Beispiel noch rechtzeitig Schutz suchen könne vor einer explodierenden Atombombe, welche Menschen auf Grundlage erfolgreicher Alphabetisierung und höherem Intelligenzquotienten als sein eigener erfunden, hergestellt, vorgehalten und eingesetzt haben?“

Tilvera: „Das habe ich so nicht gesagt.“

Ónytjungur: „Aber 70 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki läuft es darauf hinaus, oder etwa nicht?“

Tilvera: „Bis jetzt sind sowohl die 1.200 signifikanten Unfälle als auch die pro Woche auftretenden ein, zwei Computeralarme in den Vereinigten Staaten immer gut ausgegangen.“

Ónytjungur: „Und aus welchem Grund erinnert mich das an jenen Dieb, der sich dazu entschloss, in der kommenden Nacht in das nächste Haus einzubrechen, mit der Begründung, die Einbrüche seien bisher immer gut ausgegangen, und er sei dabei noch nie erwischt worden?“

Tilvera: „Weil du ein Dummkopf bist.“

Ónytjungur: „Dann hat es doch was Gutes, ein Dummkopf bleiben zu dürfen. Habe ich dir eigentlich schon davon erzählt, dass die Mutter von Albert Camus nur über einen Wortschatz von 400 Wörtern verfügte?“

Tilvera: „Und was schließt du daraus?“

Ónytjungur: „Dass ein Wortschatz von 40.000 Wörtern nicht zwingend intelligenter mache, sondern nur eloquenter.“

Tilvera: „Du urteilst über Albert Camus?“

Ónytjungur: „Wo denkst du hin! Wenn ich mich richtig erinnere, sprachen wir von Intelligenzforschern, von Menschen, die auf Grundlage erfolgreicher Alphabetisierung und höherem Intelligenzquotienten als der deinige eine Atombombe erfanden, herstellten, vorhalten, und die Absicht haben, diese auch einzusetzen, vom Dieb, der sich dazu entschloss, in der Nacht in das nächste Haus einzubrechen, mit der Begründung, die Einbrüche seien bisher auch immer gut ausgegangen, denn er sei dabei noch nie erwischt worden, und von dir, der du auch noch nach 70 Jahren glaubst, dass mit der Alphabetisierung erst die Zivilisation begann, und daher der Mensch Anspruch auf Bildung habe.“

Tilvera: „Hat er etwa keinen Anspruch darauf?“

Ónytjungur: „Das ist nicht meine Sache. Denn ich kann nur für mich sprechen. Und ich habe mir darüber bereits erfahren was mir notwendig, habe entschieden, doch besser dumm zu bleiben, und lasse mir lieber erzählen; von Menschen, die mein Vertrauen sich verdienten. Gibt es doch keinen Plural zu Intellekt.“

In Gedenken jener Kinder, die im Namen von Zivilisation, Intelligenz und Bildung am 06. und 09. August 1945 verglühten, an den Folgen starben, oder heute noch darunter leiden.

 ukEducation, intelligence and civilisation

frÉducation, intelligence et civilisation

Der Rest ist Geschichte

Der Techno schlägt regelmäßige, gleichgerichtete Schneisen in die träge Mittagshitze. Unter einem roten Baldachin lümmeln sich wie jeden Mittag stoische Urlauber in die gepolsterten Gartenstühle der Bar, Blicke konsumieren fremde Gesichter, Körper, wie billige Werbefilme, welche einer neugierig und gelangweilt inmitten eines Kinofilmes an sich vorbeigleiten lässt. Auf der Küstenstraße schieben gemütlich blendende, schwere, weiß gestrichene Tieflader ihre weiß gestrichenen Panzerfahrzeuge durch die vom Meer zurückbrandenden, braun gebrannten Körper; triefende Badehosen und Badeanzüge, das nahe kühle Bier vor Augen, nehmen nicht einmal Notiz und spähen über die Straße hinweg nach eventuell noch freien Stühlen unter der riesigen, schwarzen Lautsprecherbox. Eine weiß gestrichene tonlose Armeeeinheit durchschneidet im Konvoi lautlos den pulsierenden Techno, verlässt die Stadt in Richtung Süden. Sie lassen keine UNO-Einheiten mehr in das Landesinnere, teilt der Artikel vor Ónytjungur auf der dritten Seite mit. Sie werden heute ihren Abend wieder in ihren Tiefladern verbringen und warten.

Ónytjungur hat das Gefühl, als hätte eine Axt seinen Kopf in zwei Hälften gespalten, starrte auf die Menschen, sein Bier, die Menschen, seine Hand, das Bier, die Gesichter, die Körper, und fühlte, wie Gedanken verzweifelt sich bemühen, die klaffenden Hälften wieder zusammenzunähen, zu verbinden.

Dort oben liegt das Tal mit seiner Leichenstille, mit den schwarz geräucherten Mauerresten, den verkohlten, verstümmelten Balken, die Bewohner sind noch zu riechen, der Schweiß ihrer Arbeit, die Würze ihrer Mittagstische, aber sie waren nicht mehr da. Haus an Haus eine stumme Ruinenlandschaft, als hätte todbringende glühende Lava das Tal durchjagt und alles mitgerissen, verbrannt, eingedrückt, was sich ihr in den Weg stellte. Aber da waren noch die grüngelben Wiesen, die dichten Sträucher, die wildwuchernde Verwahrlosung in den Vorgärten der stummen Ruinen; ausgebrannte Ruinen, so frisch, als wäre erst eine Nacht verstrichen, die alles veränderte. Leichenstille. Brandgeruch. Bauernhäuser ohne Dächer, Haus um Haus, und an der nächsten Biegung die nächste Ruine. Ein Tal, das den Tod brachte. Und immer wieder dieses Erschrecken, wenn sich durch die Bäume eine Hausecke zeigt, intakt, näher ran, doch wieder ausgebrannt, ohne Dach, manche Hauswand von Gewehrsalven graviert, andere wieder ohne Kampfspuren, einfach niedergebrannt, Haus um Haus, und wieder Haus um Haus, dazwischen ein Bauer, welcher vor seinem gardinenbehängten Fenster, vor seinem unbeschädigten Bauernhof liebevoll Gemüse aus dem Vorgarten zieht. Ein Kroate.

BildKrajina2Wo ist Dein Nachbar, Kroate, möchte Ónytjungur hinüberrufen, und hingehen, doch er geht nicht, er fragt nicht. Denn dieses Haus ist unbeschädigt, geradezu friedlich inmitten der zahlreichen Ruinen, und es stand bereits zu dem Zeitpunkt, als Bauernhäuser niedergebrannt wurden, die Familien zusammengeschossen und ‚HOS‘ an die verbliebenen Mauerreste gesprüht, so wie man Todesurteile unterschreibt, und stolz noch seinen Titel neben die Unterschrift setzt. Er war Zeitzeuge, so nennen ihn die Historiker. Dieser Bauer, der in seinem Vorgarten Gemüse zieht. Es war sein Nachbar. Und entweder hat er sich in sein Haus verkrochen, es geht uns nichts an, wird er wohl gesagt haben, aber viel wahrscheinlicher ist, dass er auch vor dem Haus des Nachbarn stand, als es brannte, dass seine Hand vielleicht auch eine Fackel trug. Die gleiche Hand, die nun sorgsam das Kraut von der Erde des Vorgartens befreit. Denn das Gemüse ist kroatisch. Der Nachbar aber war Tschetnik. Man sagt nicht Serbe, man sagt Tschetnik, wenn man von Serben spricht, man nimmt den Namen aus der Vergangenheit, den Namen, den sich eine serbische Schlachtergruppe gab, um Menschen schlachten zu können. Nun ist der Nachbar Tschetnik und nicht Serbe. Das macht vieles leichter.

Der Tankwart grinst breit, als Ónytjungur sich auf dem Weg nach Plitvice erkundigt. Die Straßenschilder, die in der Vergangenheit den Weg nach Plitvice zeigten, waren verschwunden, so als gäbe es Plitvice nicht mehr. Der Tankwart in Josipdol grinste erfahren, streckte die Hand aus, als würde sie eine Pistole halten, und krümmte hintereinander mehrfach den Zeigefinger. „Tschetniki“, sagte er grinsend, so als wären sie nur noch heute dort.

Kabelstränge ziehen die Straße nach Josipdol entlang, Nachrichtenverbindungen für die Kroatische Armee, die in Cafes und Bars herumlungert, entspannt lachend, es sind die Augen von Siegern; entspannt, lachend in ihren Gefechtsständen entlang der Straße, die sie hinter Bauerhöfen und Bars versteckt halten. Ausländer sollen sich nicht außerhalb von Ortschaften aufhalten, nicht anhalten, nur in geschlossenen Ortschaften aussteigen, gebietet ein riesiges Schild am Straßenrand. Doch es gibt keine Ausländer mehr. Sie drücken sich vorbei in das touristische Vakuum, den Uferstraßen entlang, zu den nun freigewordenen Bootsstegen, Bootsliegeplätzen.

Er wird wohl dabei gewesen sein, dachte Ónytjungur und betrachtete den Bauern, wie er bedächtig Staude zu Staude neben das Gemüsebeet schichtet. Er wird wohl dabei gewesen sein, und sich nicht hinter seinen Gardinen versteckt haben, denn sie sind alle eine verschworene Gemeinschaft, sie winken sich zu, sie rufen sich zu. Sie lächeln und diskutieren auf den Straßen der nahen Stadt Otocac, eine Siegergemeinde, man ist sie los, diese Tschetniki, und wo sie einmal waren, ziert eine schwarz geräucherte Ruine die adrette Einfamilienhaus-Siedlung, ein Stück Schutt inmitten blühender Vorgärten. Sie kennen sich, sie reden miteinander. Nicht so steril und vereinzelt wie im deutschen Europa stolzieren sie eiligst und geschäftig zu ihren Errungenschaften, hier gehen die Uhren ungleich langsamer, und man spricht über Straßen hinweg von Balkon zu Balkon, man kennt sich, sogar mit Namen, die Gesichter haben noch Namen, um wie viel mehr erst draußen auf den Bauernhöfen, im Tal. Und über das zahlreiche Kennen hinaus spürt man, sieht man, das darüber hinausgehende, verbindende, das alle verbindet: da ist ein Kroate, ein Katholik, er gehört zur Familie. Nun mehr denn je, denn man wurde gemeinsam serbenrein, keine orthodoxen Christen mehr als Nachbar vorhanden. Die kroatischen Fahnen befestigen Haus neben Haus, überall Militär, Uniformen, Straßenkontrollen. Zwischen Militärfahrzeugen und grünen Tarnhemden Privatfahrzeuge ohne Nummernschilder, zwei, drei Männer in schwarzen, kurzärmeligen Unterhemden auf Feindfahrt, Fahrzeuge ohne Namen, Männer ohne Namen. Aber man ist zum ersten Mal unter sich, Soldat, Zivilist und Schwarzunterhemd. Man ist unter sich, ein Umstand, der nie in der Vergangenheit der letzten Jahrzehnte Gewicht besaß, denn man machte Geschäfte miteinander. Ob Serbe, ob Kroate, ob Katholik oder orthodoxer Christ, war gleichgültig, man traf sich bei Kaffee zu einem Schwätzchen. Nun sind die serbischen Geschäfte leer, vernagelt, es gibt keine Serben mehr, nicht hier, hier nicht mehr. Nun gibt es Autos ohne Nummernschilder und Schwarzunterhemden.

Ónytjungur beobachtet das Profil der kroatischen Soldatin inmitten der Urlauber. Das Gesicht im Schatten hinter einer schwarzen, stumpfen Sonnenbrille, scharf geschnitten, das grobschlächtige Tarnhemd, die Kampfhose, der breite Gürtel an der schlanken Taille, die Dose Bier, dieses zarte silberne Kruzifix, am Ohrläppchen aufgehängt, wie eine Leiche, die an einem Baum baumelt. Die Urlauber schicken Blicke durch die versammelte Freizeitstimmung, sie nicht, starrt gegen einen Betonpfeiler. Ein Denkmal ohne Bewegung, bis der Chef pfeift, seine Truppe sammelt. Eine halbe Stunde, und sie hatte niemanden gesehen aus dieser illustren Runde, immer nur diesen Betonpfeiler unterhalb der Lautsprecherbox. Diese Soldatin ist ein Kämpfer, prüft Ónytjungur, sie besitzt die Fähigkeit nichts sehen zu brauchen, außer dieser Betonfläche, und ihr Gesicht ist entspannt. Sie brauchte nicht einmal ihre Kameraden, am anderen Ende, über ihre Bierdosen hinweg nach Bikinis spähend, feixend bis zum Pfiff. Aufstehen, sammeln, weitermachen, Figuren innerhalb einer Absicht. Am Ende eine weitere Nation, gesäubert, gereinigt. Ein gesäubertes Mitglied der Völkergemeinschaft, ein gesäuberter Partner für Geschäfte. Morgen werden mit den ausgebrannten Häusern die letzten verräterischen Spuren aufgekehrt. Es wird niemals gewesen sein, es ist ja jetzt schon nicht mehr. Die Zeitung meldet bereits ganzseitig von sauberen Küsten, so sauber wie schon lange nicht mehr, denn sie wurden für kurze Zeit nicht mehr benutzt. Neuigkeiten aus Kroatien von Belang. Ónytjungur treibt durch die zerschossene Stadt. Zuerst stirbt der Mensch, dann die Wahrheit, der Rest ist Geschichte.

BildKrajina1Ein Wohnhaus, Stockwerk um Stockwerk, Balkon über Balkon, der letzte, im fünften Stock, dieser Balkon ist zerstört, schwarze Rauchschleier ziehen sich vom verkohlten Fensterrahmen die Mauer hinauf, zahlreiche Einschüsse markieren die Wohnung hinter dem Balkon im fünften Stock, Krieg auf zehn Quadratmeter Hauswand, der Rest ist unberührt. Da wurden Menschen herausgeschossen, herausgeräuchert, in Brand geschossen, die darunter liegenden Wohnungen durften Wohnungen bleiben, die oben war Feindesland, nunmehr wieder bewohnt, Wäsche hängt über der zerschossenen Balkonumfriedung, nunmehr kroatische Wäsche. Hat der Vormieter sich verbarrikadiert, vielleicht sogar zurückgeschossen, so dass man genau diese Wohnzelle, diese eine unter zwanzig, die unter dem Dach, isolierte, aussparte und unter konzentriertes Feuer nahm? Was mag wohl in den Sinnen dieses Mannes, oder war es eine Frau, eine Familie, was mag wohl in deren Sinnen vorgegangen sein, dass sie ihr Wohnzimmer zur Festung erklärten, wie weit konnten sie sehen, bis zum nächsten Schuss, zur nächsten Minute, eine kleine Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses, umgeben von Feinden, die gestern noch Nachbarn waren und nun Waffen trugen. Warum kam er oder die Familie nicht herunter? Was hat ihn oder diese bewogen, ihre kleine, gemütliche Wohnung mit den Bildern der Verwandten auf den Kommoden zu einer Kriegsstellung, zu einem Gefechtsstand zu erklären, darüber, darunter, nebenan, innen und außen lauter Feinde, Gewehrsalven zerplatzen an der Wohnzimmerwand, das Zimmer wird in Brand geschossen. Warlords aller Länder erklären Städte zu Festungen, stets, irgendwo, zu jeder Zeit, aber ein Wohnzimmer im fünften Stock? Oder wollte man gar nicht, dass er herunterkommt, hätte ihm unten, vor dem Haus das gleiche geblüht wie in seinem Wohnzimmer, das unter Beschuss liegt?

Nebenan klopfen sich Männer zur Begrüßung auf die Schulter, bestellen Kaffee, ein Bier, sitzen, erzählen, die Zeit geht träge und beschaulich, friedfertig und familiär zieht sich der Tagesablauf gegen den kühlen Abend hin, ein Mann schiebt eine mannshohe kroatische Fahne durch das offene Schiebedach seines Kleinwagens und fährt irgendwohin, wo diese Fahne nunmehr gebraucht wird. Alte Greise sitzen auf Parkbänken vor der zertrümmerten Häuserfront am Marktplatz. Diese Stadt ist serbenrein, und Panzersperren vor den Toren der Stadt markieren das Ende der Straße nach Plitvice. Hinter der Panzersperre liegen inmitten von intakten Bauernhäusern die nächsten Ruinen, die Fortsetzung des Tals ist kroatenrein. Das Tal zeigt sich in seiner Gesamtheit identisch, es ist ein Bild, eine Realität, gleicher können Teile, die durch Panzersperren getrennt sind, nicht sein. Nur der Kopf, die Geburtsstätte von Vorstellungen weiß, dass diesseits Kroaten und keine Serben, jenseits orthodoxe Christen und keine Katholiken, nunmehr serbenrein, kroatenrein, in die andere Hälfte des Tales schielen. Ein Mann mit blauem Barett steht neben seinem weißen Jeep, wie ein Grenzpfahl, markiert die Waffenstillstandslinie, ein Nagel im Fleisch der Köpfe. Vor ihm, in der Stadt, zieht sich die kroatische Armee zusammen, Fahrzeug um Fahrzeug passiert den Posten vor dem Hauptquartier, an einer Kontrollstelle kontrolliert Militärpolizei Marschbefehle, die kroatische Armee füllt ihre Bereitstellungsräume vor Plitvice.

Der Mann lacht aus dem offenen Verdeck seines Münchner-BMW’s. Es ist doch nur Waffenstillstand, lacht er, jeden Moment kann es wieder losgehen, mein Haus steht gleich vor der Panzersperre, ich bin mal wieder Zuhause. Er hat ein schönes Häuschen, der Vorgarten ist gepflegt, daneben eine verräucherte Ruine, ein ehemaliges Häuschen, ein ehemaliger Nachbar, eine einsame Ruine inmitten blühender, gepflegter Vorgärten. Wo ist dein Nachbar, Kroate, möchte Ónytjungur ihn anschreien. Aber der Mann lacht aus seinem offenen Verdeck, und der BMW ist so akribisch deutsch poliert.

Ónytjungur brüllt laut durch den Technosound in das fragende Gesicht der gut durchgestylten Kellnerin: „Haben Sie Cevapcici?“ Das junge Mädchen schüttelt gelangweilt den Kopf. Dann lächelt sie wie eine Mutter, welcher das naive Kind wieder eine dieser zahlreichen unsinnigen Fragen gestellt hat, und berät erheitert: „Ist serbisch!“

Unter einem roten Baldachin lümmeln sich wie jeden Mittag stoische Urlauber in die gepolsterten Gartenstühle der Bar, Blicke konsumieren fremde Gesichter und Körper wie billige Werbefilme, welche man neugierig und gelangweilt inmitten eines Kinofilmes an sich vorbeigleiten lässt. Der Techno paukt die Gehirne in jene Gleichgültigkeit, aus welcher Nationen erst erblühen. Bis die erste Kugel neben dir einschlägt. Doch dann ist es zu spät. Die CD aber wird überleben, irgendwo, in einem Archiv, für spätere Generationen, als digitaler Zeitzeuge einer Epoche. Denn Wahrheit verändert sich bereits nach dem ersten Bier.

22. August 1994, Björn Eriksson

(eine Erinnerung, anlässlich des 20. Jahrestags der „Operation Sturm“)

ukHistory will take care of the rest

frLe reste appartient à l’Histoire

Am Ende von Milliarden Jahren

troll-imadeWEB-1Tilvera: „Ein Dummkopf hat behauptet, seit Milliarden Jahren würde jedes Neugeborene, wo immer und wann immer es auch geboren wurde, über die Fähigkeit verfügen, jede Sprache der Menschen in kürzester Zeit verstehen zu können, ohne jegliche Anleitung von Lehrern oder pädagogisch ausgefeilter Übungsaufgaben.“

Ónytjungur: „Wenn ich nicht irre, so sind menschlicher Logik zufolge nur zwei Möglichkeiten bei Betrachtungen über das Universum vorhanden.“

Tilvera: „Und die wären?“

Ónytjungur: „In der Art, dass es entweder nur das Universum gibt, oder dass es etwas außerhalb des Universums gibt, also etwas, was im Universum nicht enthalten.“

Tilvera: „Mengenlehre. Und?“

Ónytjungur: „Im ersten Fall kann dem Universum nichts entnommen oder hinzugefügt werden, im zweiten Fall bestünde diese Möglichkeit.“

Tilvera: „Und weiter?“

Ónytjungur: „Davon ausgehend, dass der erste Fall zutrifft, muss in diesem Fall zwingend bereits alles im Universum enthalten sein, und zwar über die gesamte Dauer des Universums.“

Tilvera: „Was meinst du mit alles?“

Ónytjungur: „Das Gesamte.“

Tilvera: „Auch den Mensch?“

Ónytjungur: „Die Fähigkeit, diesen aus Vorhandenem zu entwickeln, also das Potential.“

 Tilvera: „Blühender Blödsinn.“

Ónytjungur: „Nun, ich nehme dich zum Beispiel. Du stehst im Augenblick am Ende einer Kette als deren letztes Glied, da du noch kein Kind gezeugt hast. Wenn ich richtig informiert bin, bist du das Ergebnis einer Vereinigung zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts, und ich wage die Vermutung, dass diese beiden Menschen ebenfalls das Ergebnis zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts waren, welche wiederum … soll ich fortfahren? Ich frage nur, denn das könnte dann etwas dauern.“

Tilvera: „Aber der Mensch war nicht immer Mensch, sondern davor Affe, und davor … soll ich fortfahren? Ich frage nur, denn das könnte dann etwas dauern.“

Ónytjungur: „So ist es. Wurde dadurch jene Kette, die ich beschrieb, unterbrochen? Oder verhält es sich so, dass für die ungebrochene Kette nur Abschnitte gewählt, und diesen jeweils ein Bezeichner zugeordnet wurde?“

Tilvera: „Nun, im Zoo kann beobachtet werden, dass auch die Affen …“

Ónytjungur: „Und wie verhält es bei den Reptilien? Ich frage nur für den Fall, sollte ein Abschnitt …“

Tilvera: „Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass ein allgemeiner Grundsatz existiere, dass ein Lebewesen auf der Vereinigung eines vorher lebenden Lebewesens beruhe, auf welche Art und Weise diese Vereinigung auch immer stattfinden mag.“

Ónytjungur: „Auch für Bakterien?“

Tilvera: „Dort durch asexuelle Zellteilung.“

Ónytjungur: „Was aber ebenfalls eine vorher lebende Bakterie voraussetze.“

Tilvera: „Es hat den Anschein. Bakterien können sogar untereinander, auch über Artgrenzen hinweg, Gene austauschen und sogar in ihrer Umgebung vorkommende, auch fossile DNS-Fragmente in ihre eigene DNS einbauen.“

Ónytjungur: „Wir können demnach von einer ununterbrochenen Kette ausgehen, deren Ende du im Augenblick bist?“

Tilvera: „Und vor den Bakterien?“

Ónytjungur: „Ist es nicht so, dass sich Elektronen, Neutronen und Protonen zu Molekülen zusammenfinden, welche die Form, und deren spezifische Zusammensetzung die Fähigkeiten bestimmen?“

Tilvera: „Dann ist alles auf Materie zurückzuführen.“

Ónytjungur: „Ich bin kein Materialist.“

Tilvera: „Dann gibt es nur Bewusstseinsinhalte.“

Ónytjungur: „Ich bin auch kein Idealist.“

Tilvera: „Dann sind also das Physische und das Psychische zwei strikt voneinander getrennte, eigenständig existierende Seinsbereiche.“

Ónytjungur: „Und ein Dualist bin ich schon gar nicht.“

 Tilvera: „Was bist du dann?“

Ónytjungur: „Woher soll ich das wissen. Ich sprach nur vom Potential, also der Fähigkeit zur Entwicklung, von einer ungebrochenen Kette, an deren Ende nun du vor mir stehst, und dass dem Universum nichts hinzugefügt werden könne. Frag jene Leute, die sagen, ich sei damit ein Solipsist.“

 Tilvera: „Ein metaphysischer, ein ethischer, oder ein methodologischer?“

Ónytjungur: „Das werden dir jene beantworten, die mich in diese Schublade einsortieren.“

Tilvera: „Nun, deine Anschauung ist ja ganz drollig, aber hast du auch einen Begriff dafür?“

Ónytjungur: „Es gibt keinen.“

 Tilvera: „Dir ist schon bekannt, dass Begriffe ohne Anschauung leer, und Anschauungen ohne Begriffe blind sind.“

Ónytjungur: „Nicht nur bekannt. Schon vor 900 Jahren beklagte sich einer darüber, dass es nun ein Wort gebe, für das es keine Wirklichkeit gibt, und es früher eine Wirklichkeit war, für die es kein Wort gab.“

Tilvera: „Was willst du mir damit sagen?“

Ónytjungur: „Dass es für diese meine Anschauung keinen Begriff gibt. Es dürfte dir aber nicht leicht fallen, mir nachzuweisen, dass meine Gedanken ohne Inhalt waren.“

ukAt the end of several billion years

frAu bout de plusieurs milliards d’années